Wann waren Sie das letzte Mal in Paris? Und: Wie war das damals? Also abgesehen von Romantik und Eiffelturm, Notre Dame und Saint Chapelle, Arc de Triomphe und Louvre?
Wie war Paris – als Stadt? Freundlich? Entspannt? Laut? Haben Sie sich wohl gefühlt? Haben Sie darüber nachgedacht, ob Paris eine Stadt wäre, in der zu leben Sie sich vorstellen könnten?

Mein Paris ist ein bisserl älter. Gut zehn Jahre ist es her, dass ich hier war. Pärchenurlaub. Romantik. Spazieren. Händchenhalten. Ein Traum. Aber: Hier leben? No Way.

Zu viele Autos. Zu viel Lärm. Zu viel Hektik – vor allem auf den Straßen. Auch wenn damals schon an den Seineufern Sandstrand gespielt wurde und am Wochenende die Jogger den Ton angaben: Paris war Autostadt. Stand sich selbst im Weg – und roch auch so. Irgendwo zwischen den Stadtautobahnen war eine Stadt. Mit Kinderlachen – verborgen im Hupkonzert. Mit breiten Boulevards und grandiosen Fassaden – die die Farben der Dieselwolken hatten. Mit Menschen – die in Autos saßen.

Keine Frage: Paris war wunderschön – für drei Tage. Paris am Rad erkunden? Nie im Leben!

Aber das war vor Jahren. Und stimmt heute nicht mehr. Schuld ist eine Frau. Und das Fahrrad. Die Frau heißt Anne Hidalgo. Sie ist Bürgermeisterin – seit 2014. Das Fahrrad hat Hidalgo zwar weder erfunden, noch nach Paris gebracht, aber eben in den Fokus ihrer Politik gestellt – ohne Angst vor Konflikten: Die Franzosen lieben Autos. So wie wir lebten auch sie jahrzehntelang den Autotraum: Wohlstand, Freiheit, Mobilität – dafür stand das Auto.

Dass dem – in den Städten – längst nicht mehr so ist, wollten auch die Franzosen, die Pariser, nicht hören. Obwohl sie es spürten: Das Auto war zum Maß aller Dinge geworden. Zum Selbstzweck. Zur Heimsuchung.

Anne Hidalgo sprach das an, und setzte Maßnahmen: Sie sperrte das Seineufer für Autos. Reservierte Parkplätze für Leihrad- und Leih-E-Auto-Entnahmestellen. Baute Radwege, die diesen Namen verdienen – und nahm den Platz dafür von jenen, die davon zu viel verbrauchten: den Autos.

Sie stritt. Und setzte sich durch. Die Radwege brachten Radfahrer. Die Verkehrwende begann: Um über 50 Prozent mehr Radler zählte man in Paris von 2018 auf 2019. Der Anteil der Autos am Gesamtverkehrsmix sank in Hidalgos erster Amtsperiode um 19 Prozent: Paris, sagt man mir, sei kaum wieder zu erkennen. Auch, weil man es nun am besten auf eine Art erkunde, die früher nur Lebensmüde gewählt hätten: Auf dem Rad.

Derzeit kämpft Anne Hidalgo darum, für eine zweite Amtsperiode gewählt zu werden. Und startete im Jänner mit einer ambitionierten Ansage in den Wahlkampf: 72 Prozent der Parkplätze im öffentlichen Straßenraum, sagt Hidalgo, sollten verschwinden – weil Städte für Menschen und nicht für Autos da zu sein hätten. Nicht nur Radwege, sondern auch Wohnstraßen, die diesen Namen tatsächlich verdienen, sollten kommen.

Dann kam Corona. Plötzlich war alles andere unwichtig: Frankreich stand. Verharrte im rigiden Lockdown. Doch Hidalgo wusste: Das Leben würde irgendwann wieder beginnen. Die Menschen würden dann wieder mobil sein. Wollen und müssen. Und die einzige Chance, dass Paris dann nicht in und an sich selbst ersticken würde war – genau – das Fahrrad. Deshalb gab Hidalgo Anfang Mai Vollgas: Bis zum Ende des Lockdowns sollten 960 Radweg-Kilometer entstehen. In zwei, drei Wochen. Darüber, ob die nur – so wie in anderen Städten – provisorisch oder doch dauerhaft bleiben würden, könne man später reden. Nach der Wahl.

Doch vorher kommt der Sommer: Da wird Paris – so wie andere Städte auch – unter den Klima-Veränderungen stöhnen. Hitze. Trockenheit. Staub und schlechte Luft.
Anne Hidalgo wird dann auf etwas hinweisen können, was auch anderswo längst bekannt ist. Nämlich dass Corona und der Klimawandel eines gemein haben: Die Lebensqualität in den Städten wird überlebenswichtig. Städte leben, wenn der öffentliche Raum öffentlich und nutzbar ist ist. Wenn Platz und Luft und Grün ihn zu Lebensraum machen. Lebensraum für Menschen.

Anne Hidalgo hat gute Chancen, als Bürgermeisterin wiedergewählt zu werden. Niemand lachte, als sie ihre aktuelle Vision einer Stadt für Menschen präsentierte.

In Wien ist derzeit Wahlkampf. Der amtierende Bürgermeister wurde noch nie auf dem Fahrrad am Weg zur Arbeit gesehen. Radwegnetze auf Kosten von Fahrspuren? Wohnstraßen, in denen keine Autos parken? Undenkbar.
2020 sollen in Wien vier Kilometer Radwege gebaut werden. Insgesamt.