Zum 11. Jahrestag der Atomkatastrophe in Fukushima widmen wir uns den ökologischen und sozialen Folgen: entwurzelte Familien, ausgestorbene Evakuierungszonen, verstrahlte Erde, verseuchte Wälder, Flüsse und Seen. 

Die ökologischen und sozialen Folgen sind in Japan weithin sichtbar und die havarierten Reaktoren noch längst nicht außer Gefahr. Von ihnen geht eine anhaltende Strahlenbelastung aus; jeden Tag nimmt die radioaktive Kontamination von Meer, Luft und Boden zu. Große Mengen an radioaktivem Material befinden sich weiterhin in den havarierten Reaktorgebäuden, während auf dem Kraftwerksgelände radioaktive Materialien unter freiem Himmel gelagert werden. Dieser Zustand stellt im Fall eines erneuten Erdbebens eine große Gefahr für Mensch und Umwelt dar. Die Atomkatastrophe dauert an. Es gibt keine Entwarnung.

Gesundheitsrisiken

Elf Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima haben Japaner, die 2011 noch Kinder waren, ein mindestens 15-faches Risiko, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken. Bei mittlerweile 205 Kindern sind in der Feinnadelbiopsie Krebszellen gefunden worden. 167 dieser Kinder mussten aufgrund eines rasanten Tumorwachstums, einer ausgeprägten Metastasierung oder einer Gefährdung vitaler Organe mittlerweile operiert werden.

Die Fukushima Medical University (FMU) teilte zudem mit, dass von mittlerweile 217.513 vollständig untersuchten Kindern (64,6 % der gesamten Studienpopulation von 336.669 Betroffenen) bei 141.275 Kindern (65 %) Knoten oder Zysten in der Schilddrüse gefunden wurden.

Die IPPNW (Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) kritisiert die Versuche der Fukushima Medical University, die Schilddrüsenuntersuchungen zu unterminieren. So sollen die Untersuchungsintervalle entgegen ursprünglicher Pläne und Ankündigungen ab dem 25. Lebensjahr von 2 auf 5 Jahre ausgeweitet werden. Zudem werden die Kosten für die Untersuchungen ab Erreichen des 18. Lebensjahres nicht mehr erstattet. „Es ist zu vermuten, dass diese Bemühungen darauf abzielen, die Teilnahmequote weiter zu reduzieren und durch eine systematische Verzerrung der Testergebnisse langfristig die gesamte Studie zu entwerten“, erklärt der IPPNW-Vorsitzende Dr. Alex Rosen.

Entsorgung des strahlenden Materials

Die größte Gefahr geht immer noch vom Kraftwerksgelände aus, wo sich mittlerweile 1,23 Millionen m³ kontaminiertes Wasser befinden, das die Regierung am liebsten ins Meer entsorgen möchte. Die Masse der geschmolzenen Reaktorkerne im Inneren der Reaktoren wird auf 600-1100 Tonnen geschätzt. Sie sind nach wie vor unzugänglich. All dieses strahlende Material soll nach dem Wunsch der Regierung in den nächsten 3-4 Jahrzehnten, spätestens bis Mitte der 2050er Jahre vom Gelände entfernt werden. Das Material wird viele Jahre bis Jahrhunderte auf dem Kraftwerksgelände verbleiben müssen.

Ein gelbes Fass, das mit einem Strahlungssymbol verziert ist, steht auf dem Gras und erinnert an die Folgen von Fukushima. Im Hintergrund ragt ein Atomkraftwerk auf, aus dessen Kühltürmen Dampf aufsteigt.

Der Nuklearwissenschaftler Shaun Burnie beschäftigt sich mit der Situation der umliegenden Gebiete, die durch ungünstige Windrichtung am 13.-16. März 2011 stark verstrahlt wurden, hauptsächlich durch radioaktives Cäsium (Halbwertszeit 30 Jahre). Der Wind blies die giftige Wolke bis nach Iitate, ca. 40 km nordwestlich vom Kernkraftwerk entfernt. Die Evakuierungszone 20 km rund um die Unglücksstelle war also unzureichend. Seit 2012 betreibt die japanische Regierung in der Folge ein beispielloses Dekontaminierungsprogramm, in welchem 9,1 Millionen m³ kontaminierter Böden, sowie 17 Millionen Tonnen von anderem Atommüll gesammelt wurden, die nun ebenfalls auf dem Kraftwerksgelände von Fukushima lagern.

Die Kosten dafür beliefen sich bisher auf über 30 Milliarden Dollar, was einmal mehr zeigt, welche immense Kostenfalle die Nutzung der Kernenergie darstellt. Die japanische Regierung verkündete im Jahr 2018, dass die Dekontamination im Wesentlichen abgeschlossen sei, der angestrebte Grenzwert vom 0,23 μSv/h (Mikrosievert pro Stunde) nirgendwo mehr überschritten werde, außer in wenigen, jedoch bekannten „Strahlungs-Hotspots“. Zum Vergleich, die natürliche Hintergrundstrahlung in den verstrahlten Bezirken betrug vor der Katastrophe 0,04 μSv/h.

Shaun Bernie berichtete von gemessenen Maximalwerten von über 24 μSv/h und durchschnittlich 4 μSv/h etwa in Obori. Das Schlimme:

Selbst bei weitreichender Dekontamination der urbanen Gegenden ist eine vollständige Reinigung des gesamten verstrahlten Gebietes illusorisch.

Ein großer Teil der Gemeinde Iitate etwa ist gebirgig und dicht bewaldet. Für eine vollständige Dekontamination müsste jeder Baum mit Hochdruckreinigern abgespritzt werden und die oberste Bodenschicht komplett abgetragen und ersetzt werden. Die Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens sollte jedem klar sein. Das führt dazu, dass bei schweren Regenfällen, die in dieser Gegend regelmäßig auftreten, radioaktives Material in bisher unbelastete Gebiete – im schlimmsten Falle in bereits dekontaminiertes Gelände – geschwemmt wird.

Hinzu kommt noch die radioaktive Belastung der Gewässer, die im Fluss Takase im Jahr 2018 durchschnittlich 0,8 μSv/h betrug. Kopfschütteln rief bei Shaun Bernie auch die Planung der olympischen Sommerspiele 2021 hervor, bei denen zwei Events in Fukushima-City stattfinden sollen. Greenpeace maß die dortige Strahlenbelastung, die mittlerweile im Durchschnitt mit 0,1 μSv/h unter den von der Regierung angestrebten Grenzwert gesunken ist. Abgesehen davon, dass sie gegenüber der normalen Hintergrundstrahlung immer noch um mehr als das Doppelte erhöht ist, maßen die Greenpeace-Mitarbeiter*innen einzelne radioaktive Hotspots von bis zu 73 μSv/h, sowohl im J-Village, wo die AthletInnen untergebracht werden sollen, als auch im Stadion selber!

Das Tückische an der Situation ist, dass die vorhandenen radioaktiven Hotspots nicht dauerhaft stationär sind, womit sie verhältnismäßig leicht abgesperrt und gekennzeichnet werden könnten. Durch die vielen Regenfälle bewegen sie sich und wandern, lösen sich vielleicht an einem Ort auf und entstehen dafür an einem nächsten neu. Die Strahlung ist für Besucher nach Einschätzung von Shaun Bernie zwar nicht gefährlich, für dauerhafte Bewohner des Gebietes jedoch sehr wohl. Von daher ist das Handeln der japanischen Regierung, bei allem Verständnis für den Wunsch nach Rückkehr der Bevölkerung, hochgradig verantwortungslos.

Psychosoziale Folgen

Bekannte Daten sprechen eine deutliche Sprache: Unter den ca. 400.000 Vertriebenen aus den verstrahlten Gebieten ist eine deutliche Erhöhung von Selbstmorden, Depressionen, posttraumatischer Belastungsstörung und Alkoholismus festzustellen. Besonders tragisch sind die Fälle von Schulmobbing im Zusammenhang mit Kindern von Fukushima-Evakuierten. Diese werden von ihren Mitschüler*innen nicht selten wie Parias (Ausgestoßene) behandelt. Ein Phänomen, das bereits bei den Opfern von Hiroshima und Nagasaki auftrat. Die Menschen aus den Evakuationsgebieten sind auch gesellschaftlich deutlich isolierter, oft haben sie es schwer, Ehepartner zu finden.

Der Versuch der Regierung, mit ihrer wiederholten Botschaft „alles ist gut, die Gefahr ist vorüber“ die Situation zu entschärfen, schlug ins Gegenteil um: Sie verschlimmerte die psychische Belastung in der Bevölkerung, da allzu deutlich die kommunizierte Realität von der wirklichen, erlebten Realität abwich. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass der Name Fukushima weltweit in einem Atemzug mit Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl genannt wird. Dieses Stigma wird lange wirken (für das Land, aber auch für die Menschen vor Ort).

Mehr zum Thema Anti-Atom gibt es in unserem Podcast „Freitag in der Arena“.