Maximilian Kloess ist Geschäftsführer der oekostrom Handels GmbH – also für den Einkauf von Strom und anderen Energieträgern der oekostrom AG zuständig. Im Interview spricht er über die Preisrallye am Energiemarkt, die Angst vor einem kalten Winter und wohl bevorstehenden weiteren Energiepreiserhöhungen, über die die Politik lieber nicht redet. Aber auch darüber, wie staatliche Förderungen und Preisbremsen das Bewusstsein fürs Energiesparen untergraben und die Chancen, gerade jetzt durch die hohen Gewinne den Ausbau von Wind- und Sonnenkraftwerken zu forcieren. 

Bevor wir zum Fachlichen kommen: Wie warm ist es bei Dir gerade – und wie warm wird es im Winter bei dir zu Hause sein?

Derzeit haben wir hier knapp über 20 Grad – und, ja im Winter wird es natürlich kälter werden. Dann wird sich die Frage stellen, wie man mit dem Heizen umgeht – und da wird jeder aufgefordert sein, das Komfort-Niveau ein bisschen herunterzuschrauben. Ich hatte bisher immer 20,5 bis 21 Grad. Aber ich habe meine Familie darauf vorbereitet, dass wir es mal mit 19 Grad probieren werden. Das sind zwei Grad und das klingt nach wenig, ist aber eine beträchtliche Einsparung beim Gasverbrauch.

Du verstehst beruflich, warum Gas, warum Heizen, warum Energie so eine Preisrallye durchmacht. Andere sehen nur die Rechnung und sind entsetzt. Aber: warum ist das eigentlich passiert?

Wir haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine starke Abhängigkeit in der Gasversorgung von Russland aufgebaut. Wir hatten sehr günstige Gaspreise – auch im weltweiten Vergleich. Aber Russland hat seine Versorgung abrupt auf fast Null zurückgefahren. Das führt zu Knappheit – und Knappheit drückt sich auf den Märkten dadurch aus, dass die Preise steigen.

In diesem Fall war das so abrupt, dass die Knappheit zu einem extrem steilen Preisanstieg führte. Auf ein Niveau, das vorher nicht für möglich gehalten hat.

Ich bin fast zehn Jahre bei der oekostrom AG im Stromeinkauf und wir hatten eine preisliche Bandbreite zwischen 20 und 50 Euro pro Megawattstunden, rund neun Jahre lang. Bis Mitte vergangenen Jahres – da ging es los. 50 Euro die Megawattstunde sind fünf Cent die Kilowattstunde – aber das ist plötzlich auf bis zu 1.000 Euro pro Megawattstunde geschossen.

Man bereitet sich im Risikomanagement auf Extremszenarien vor - aber kein Extrem-Szenario hat dieses Preisniveau, in dem wir uns jetzt befinden, am Radar gehabt.

Wenn Profis überrascht sind: Wer steuert das?

Im Grunde ist man Passagier. Es gibt in der Preisentwicklung ein gewisses Hintergrundrauschen, das auch von Händlerpositionen herkommt. Aber warum das so hoch ging, ist der geopolitischen Situation geschuldet: Aus Russland kommt kaum Gas mehr – und wird aufgrund der Entwicklung der letzten Tage (Anm.: Das Gespräch wurde unmittelbar nach den Zerstörungen der Nordstream-Pipelines geführt) können wir davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren nicht mehr viel kommen wird.

Jetzt blicken alle darauf, wie es in den nächsten Tagen und nächsten Jahren mit ihrer eigenen Portfolioversorgung weitergehen wird. Jeder versucht sich einzudecken. Da müssen neue Quellen erschlossen werden – und die sind teurer. Beim Gas ist das zum Beispiel Flüssiggas, das mit Schiffen transportiert wird. Das ist schon vom Prozess her viel teurer. Zusätzlich steht man in Konkurrenz zum Weltmarkt, mit Asien zum Beispiel, wo traditionell Flüssiggas gekauft wird. Plötzlich sind wir in einem ganz anderen Marktumfeld: Russland konnte nur an uns verkaufen über die Pipelines – deswegen hatten wir einen Sonderpreis.

Haupttreiber der Preisentwicklung ist der Gaspreis – und da ist man als Händler tatsächlich Passagier.

Kurze Klarstellung: Wir führen dieses Gespräch am 30. September, zwei Tage nachdem die ersten Lecks in den Nordstream-Pipelines auftraten. Aber ist es wirklich nur das russische Gas, das die Preise nach oben treibt?

Es gibt auch andere Faktoren. Der eine ist das Risiko, was alles noch passieren könnte. Ein Anschlag auf die Infrastruktur zeigt, wie vulnerabel Infrastruktur an sich ist. Es gibt nicht nur russische Pipelines sondern zum Beispiel welche von Norwegen nach Europa. Oder durch das Mittelmeer: Von Algerien nach Spanien. Von Tunesien oder Libyen nach Italien. Sie verlaufen am Meeresgrund – und sind angreifbar. Dieses Bedrohungsszenario bewegt Marktakteure dazu, panikartig zu versuchen, sich Anteile zu sichern um für den Fall, dass alles preislich eskaliert, abgesichert zu sein.

Der zweite Faktor: Wir hatten heuer ein sehr trockenes Jahr. Also wenig Wasser in den Flüssen und damit wenig Wasserkraft. Auch in Skandinavien, zum Beispiel Norwegen, das zu 100 Prozent mit Wasserkraft versorgt wird und ein großer Exporteur ist. Dort ist seit über einem Jahr eine sehr trockene Phase. Die Speicher sind auf sehr niedrigem Stand. Norwegen kann nicht mehr Strom exportieren, etwa nach Deutschland, und hat sehr hohe Preise. Das ist eine Gemengelage, die das Problem, das wir im Gas haben, im Strommarkt noch verstärkt.

Hier kommt der unvermeidliche Einwurf, dass gerade die oekostrom AG für Solar- und Windenergie steht. Ich kaufe bei euch sauberen Strom – wieso wird der auch teurer?

Weil Strom, den wir einkaufen, auch von Kraftwerken kommt, die nicht uns gehören. Die Preise dafür richten sich nach den Börsepreisen, weil die Kraftwerksbetreiber sagen: ‚Ich kann an euch verkaufen oder an die Börse. Und die Börse zahlt mir den Preis, den wir jetzt sehen, den will ich von euch auch.’ Keiner ist bereit, weniger zu akzeptieren, als er woanders bekommen könnte. Und so steigen unsere Einkaufskosten entsprechend steigen.

Unsere Kraftwerke sind innerhalb des oekostrom-Verbundes eigene Gesellschaften und verpflichtet, das Maximum herauszuholen. Also zu Konditionen zu verkaufen, die für sie am besten sind. Die können der Schwestergesellschaft „Vertrieb“ den Strom nicht unter dem Marktpreis weitergeben.

Natürlich sind die Vollkosten einer Erneuerbaren-Anlage, Windkraft zum Beispiel, deutlich niedriger als das, was wir momentan an der Börse sehen. Aber gemessen an der Lebensdauer einer Windkraftanlage sind diese wahrscheinlich zwei, drei Jahre nur ein Teilabschnitt: Eine Windkraftanlage wird auf 20 Jahre konzipiert und berechnet: Ok, jetzt haben wir drei Jahre, in denen wir voraussichtlich mehr verdienen als geplant – aber: wer weiß was kommt?

Weißt du das?

Wir haben jetzt einen Extremfall, aber wir gehen davon aus, dass die öffentliche Hand einen Eingriff vornimmt und einen Teil dessen, was jetzt erwirtschaftet wird, umverteilt werden wird.

Wir alle haben in den letzten Wochen und Monaten das Wort „Merit Order“ kennen gelernt. Vereinfacht gesagt steht das dafür, dass das teuerste Kraftwerk den Preis bestimmt. Politisch wird das gerade als Quell des Übels geframed. Ist dem so?

Nein. Merit-Order ist ein System, das letzten Endes funktioniert. Es gewährleistet, dass sich ein effizienter Preis am Markt einstellt. Jene, die am günstigsten Energie anbieten, werden als erste zugeschaltet und kommen als erstes zum Zug. Es werden immer nur genau so viele Kraftwerke eingesetzt, bis der Bedarf gedeckt ist. Das heißt: Es ist nicht immer erforderlich, auch die teuersten Kraftwerke einzusetzen.

Dieser effiziente Preisfindungsmechanismus hat sich über 20 Jahre im Strommarkt bewährt und zu niedrigen oder sogar sinkenden Stromkosten geführt.

Vor fünf Jahren hatten wir Strompreise bei zwei bis drei Cent am Großhandelsmarkt. Damals hatten wir zu viel. Es wurde Wind und Photovoltaik in Deutschland ausgebaut und alte Kohlekraftwerke und Atomkraftwerke waren noch da. Das hat zu einem Überangebot mit niedrigen Preisen geführt.

Jetzt sind in Deutschland viele Atomkraftwerke abgeschaltet und Kohlekraftwerke sind vom Netz gegangen. Zusammen mit der Gaspreissituation ergibt sich jetzt eine Knappheit. Insofern funktioniert der Markt auch jetzt, weil der Markt über die Preise die Knappheit signalisiert.

Aber was fange ich als Verbraucher mit diesem Signal an? Heizen wird teuer bis unlesbar.

Die Botschaft ist: Ihr solltet weniger verbrauchen! Das ist die kurzfristige Nachricht. Beim Bedienen des Heizungsthermostats ist also ein Anreiz zum Sparen gegeben. Die zweite Botschaft ist das langfristige Signal, Erneuerbare auszubauen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt:

Wir brauchen mehr Erzeugungskapazität. Und da ist es wichtig zu sehen, was ich am schnellsten und günstig ausbauen kann: Die Erneuerbaren.

Gaskraftwerke und Atomkraftwerke brauchen Jahrzehnte – die helfen uns in den nächsten Jahren überhaupt nichts. Das Einzige, was wir in den nächsten Jahren schnell ans Netz bringen können sind Windkraftanlagen, sind Photovoltaikanlagen.

Arnold Schwarzenegger sagte gerade, Deutschlands großer Fehler war, die Atomkraftwerke zu früh abgeschaltet zu haben …

Nein, das ist nicht so. Kurzfristig kann es die Situation etwas entschärfen, wenn ich die Laufzeit um ein paar Monate verlängere. Aber zur Verlängerung um etliche Jahre muss Brennstoff beschafft werden – und da gibt es ja wieder große Abhängigkeiten. Man vergisst immer, dass Atomkraft von Importen zu einem großen Teil aus genau diesen kritischen Ländern abhängig ist. Zusätzlich kommt Verantwortungslosigkeit der Atomkraft gegenüber zukünftigen Generationen: Das ist eine Technologie, die im Schadensfall auf Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, enorme Probleme mit sich bringt. Das ist in Geld gar nicht zur darzustellen.

Die saubere Lösung ist unumstritten die Forcierung der Erneuerbaren. Nur: Sofort wird das nicht gehen – also heißt es Energie sparen. Wenn Energie teuer, der Preis aber gestützt wird – wie attraktiv ist das Energiesparen?

Das Fördern mit der Gießkanne ist problematisch. Gleichzeitig ist klar: Es gibt Haushalte, die am Limit sind. Denen muss geholfen werden. Und zwar schnell. Auf der anderen Seite ist es aber wichtig, dass dieses Knappheitssignal auch wirkt und man Anreize schafft, dass jeder sein Verhalten anpasst, damit wir einen Verbrauchseffekt haben.

Da ist es wirklich problematisch, wenn man zu Maßnahmen greift wie Boni und Strompreisbremse, die mit der Gießkanne über alle ausgeschüttet kommt. Erst recht, wenn in manchen Bundesländern sogar eine „Überentlastung“ entsteht, also unterm Strich das Energieverbrauchen noch günstiger wird als davor: Da gibt es keinen Einsparanreiz mehr.

Zurück zum Preisanstieg. Strom kaufen Energieversorger ja langfristig und im Voraus ein. Das heißt, dass der Verbraucher Preissteigerungen erst mit Verspätung mit voller Wucht ganz spürt. Kommt also das dicke Ende erst?

Genau. Das kommt hinzu. Am Terminmarkt wird zwei bis drei Jahre im Voraus begonnen, das Lieferjahr zu bedienen. Wir haben jetzt 2022. Dafür wurde teils schon 2020 zu deutlich niedrigeren Preisen beschafft. Strom hat beim Endverbraucher daher derzeit einen deutlich geringeren Durchschnittspreis als auf den Märkten. Darum zahlen die meisten Kunden deutlich weniger als Marktpreisniveau. 2023 ist dann schon viel Beschaffung aus dem teuren Jahr 2021 drinnen. Und so weiter: Das steigt – aber langsam. Also: Ja, dieser Effekt kommt bei den meisten Kunden zeitverzögert an.

Wir gehen davon aus, dass sich die Preisspitze noch bis 2023 und ins erste Quartal 2024, also in den nächsten Winter, fortführen wird und danach wieder hinuntergeht. Es ist also damit zu rechnen, dass im Jahr 2023 oder 2024 unser Portfoliopreis am höchsten sein wird und damit für viele Kunden die höchste Belastung entstehen kann. Das ist eine Zeitverzögerung von in etwa eineinhalb bis zwei Jahren.

Wenn man bei politischen Ansagen nicht sehr genau hinhört, wird aber so kommuniziert, als würden die aktuellen Zuschüsse jetzt alles abpuffern.

Ja, das ist problematisch. Denn all die teuren Maßnahmen müssten dafür lange aufrechterhalten werden. Das bringt sehr hohe Kosten mit sich. Da muss vielleicht nachgeschärft werden. Da kann es später zu einem Moment kommen, wo es Einschnitte geben wird – und das ist etwas, was man jetzt nicht so gerne so offen anspricht.

Was tun?

Energiesparen. Und zwar effizient. Es ist wichtig, dass die Preise und damit das Knappheitssignal bei den Leuten ankommt. Dann kann sich jeder überlegen: ‚Okay, was was brauche ich nicht unbedingt?

Produktionsbetriebe überlegen sich, bis zu welchem Energiepreis sie produzieren können. Wenn Produktionsbetriebe zusperren, wird es problematisch.

Darum ist es wichtig, in der Breite einzusparen. Bei Dingen, die die Volkswirtschaft nicht zu sehr beeinträchtigen: Brauch ich wirklich drei Kühlschränke? Muss ich meine Wohnung auf 24 Grad heizen – auch wenn ich es mir leisten kann?

Aber die Politik will ja, dass sich jede:r weiter alles leisten kann.

Genau das ist das Problem. Strompreisbremse bedeutet: Ich merke es nicht. Ich kann mit 24 Grad durch den Winter fahren, weil es finanziell egal ist. Es muss jeder spüren, damit überall Maßnahmen getroffen werden – damit es nicht nur ankommt, wo es volkswirtschaftlich problematisch wird.

Der Strompreis hängt am Gas, weil damit Strom erzeugt wird. Trotzdem schreiben Kommentator:innen, dass wir nicht eine sondern zwei Energiekrisen haben: Einmal Strom, einmal Gas – aber bei mir steht am Ende ein Rechnungsbetrag.

Ja, die sind natürlich verknüpft, weil wir viele Gaskraftwerke im System haben. Da führt eine Krise zur anderen, weil die Probleme am Strommarkt alleine ohne Gaseffekt nie ein derartiges Problem hervorrufen: Das Grundproblem ist der Gaspreis, aber dennoch sind es zwei Krisen.

Eben weil wir in Europa gerade in diesem Jahr auch andere Probleme am Strommarkt haben: Die angesprochene Trockenheit. In Frankreich ist die Hälfte der AKW wegen Wartungsarbeiten nicht in Betrieb. Die Niederschläge der letzten Wochen helfen aber: Die Flüsse führen wieder mehr Wasser. Das bedeutet, dass die aktiven Atomkraftwerke auf voller Kraft fahren können. Das bedeutet auch, dass im Rhein die Schifffahrt wieder funktioniert. Dort wird Kohle für die Kohlekraftwerke verschifft. Und natürlich ist die Wasserführung für die Wasserkraft wichtig: Das sind Signale, die ein bisschen für Entspannung sorgen – aber das Grundproblem ist ganz klar der hohe Gaspreis.

Gleichzeitig schreiben Energiehersteller deshalb gerade Rekordgewinn. Die Politik, die EU, plant Sonder- und Übergewinnabschöpfungssteuern. Für Laien eine klare Sache: Gefühlt schwimmt ihr ja gerade in Geld. Was tut ihr damit?

Wir hören, dass der Staat sehr viel Geld in die Hand nimmt, um Haushalte jetzt zu unterstützen – und dieses Geld muss irgendwoher kommen. Da ist es zu einem gewissen Grad naheliegend, das von denen zu nehmen, die gerade profitieren.

Allerdings muss man auch sagen, was wir – speziell die Erneuerbaren – mit den Gewinnen tun: Wir investieren in neue Kraftwerke: In Windkraft und Photovoltaik. Also in Maßnahmen, die helfen, das Problem schnellstmöglich zu entschärfen.

Das ist auch ein Punkt: Man muss bei denen, die zur Lösung des Problems beitragen, eben den Erneuerbaren-Erzeugern, ein Gleichgewicht finden zwischen Abschöpfen und dem Reinvestieren-Lassen.

Dazu sind wir sehr gut in der Lage: Es ist das oekostrom AG-Alltagsgeschäft saubere Kraftwerke zu errichten. Aber dafür brauchen wir Geld. Wenn wir mehr Geld zur Verfügung haben, können wir mehr Anlagen errichten – und das auch schnell. Bei uns tragen diese Profite massiv dazu, das Problem zu entschärfen.

Gibt es an der momentanen Situation etwas, das du auch positiv, als guten Schritt in die Zukunft, sehen kannst?

Ja. Denn was gerade um sich greift, ist das Bewusstsein, Energie zu sparen. Man setzt auf Maßnahmen, die energieeffizient sind. Man investiert massiv in die Erneuerbaren. Wie wichtig all das ist, ist in der Mitte der Bevölkerung angekommen. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn das hilft uns nicht nur durch die momentane Energiekrise, sondern auch in der viel größeren, globalen Krise – der Klimakrise.

Das in diese ‚Mitte der Bevölkerung‘ zu tragen, ist wichtig. Weil so klar wird, dass jeder gefordert ist. Meine Hoffnung ist, dass wir so nach dieser vergleichsweise kleineren Krise die ganz große Krise, in der wir uns ja auch befinden, besser bewältigen können.