1975 stieß Hermann Knoflacher mit einem umgehängten, hölzernen „Gehzeug“ die Autowelt vor den Kopf, als er den unverhältnismäßigen Platzbedarf des PKWs aufzeigte. Anfang der 1980er Jahr brach er mit der „Erfindung“ der Fußgängerzone in der Wiener Kärntner Straße ein absolutes Tabu. Der TU-Professor stellt das Primat des Autos im öffentlichen Raum seit jeher in Frage. In seinem aktuellen Buch „Virus Auto 4.0“ analysiert er, wie sehr diese „Infektion“ die Gesellschaft heute beherrscht.

Eine Buchrezension (und Leseempfehlung) von Tom Rottenberg

Erinnert sich noch jemand an Flann O’Briens „Fahrrad-Unschärfe Theorie“? Nein? Schade. Denn genau genommen griff der 1966 verstorbene irische Romancier damit schon 1939 dem vor, was Hermann Knoflacher, der Doyen des modernen Mobilitäts- und Verkehrsdenkens im deutschsprachigen Raum, Anfang dieses Jahres in seinem soeben erschienenen Buch „Virus Auto 4.0“ (der über weite Strecken aktualisierten Fassung seines Klassikers „Virus Auto“ aus 2009) postuliert – und auch belegt.

Aber bleiben wir noch bei O’Brien. Weil der in seinem skurrilen Roman „Der dritte Polizist“ mit dem Fahrrad-Gleichnis einfach, unterhaltsam und anschaulich beschreibt, was Knoflacher dann – aufs Auto umgelegt – als Gesellschaftsanalyse vorlegt. Einer Analyse, die so verheerend-zutreffend ist, dass den meisten Leserinnen und Lesern jenes Lächeln einfriert, das bei O’Brien unvermeidlich ist.

Die „Fahrrad-Unschärfe-Theorie“ übersteigert den physikalischen Satz, wonach Atome über Elektronen miteinander verbunden sind und daher nie absolut voneinander abgrenzbar sind. Der stete Elektronen-Austausch ermöglicht eine Groteske, die nicht nur moralisch-ethische, sondern auch demokratiepolitische Konsequenzen hat: Sitzt jemand oft auf dem gleichen Rad, fabuliert der Romancier, müssten sich seine und die Elektronen des Rades ja sukzessive austauschen und vermischen. Über die Jahre verschwimme also die Grenze zwischen Mensch und Fahrrad. Irgendwann stelle sich dann die Frage, ob jemand mehr Rad oder Person sei. Und umgekehrt: Wäre dann das Fahrrad nicht wahlberechtigt? Oder auch strafmündig. Letzteres spielt im Roman eine Rolle.

So weit so schräg – und weltfremd. Oder vielleicht doch nicht? Denn ohne auf O’Brien Bezug zu nehmen (vermutlich ohne den „Dritten Polizisten“ je gelesen zu haben), baut Hermann Knoflachers „Virus Auto 4.0“ im Grunde auf einem sehr ähnlichen Gedankenmodell auf. Nicht beim Fahrrad, sondern beim Auto. Und nicht über eine stoffliche, sondern emotionale, psychische Ebene – dafür umso intensiver.

Hermann Knoflacher trat und tritt mit seinen Thesen zu Verkehr, Stadt- und Raumplanung seit den 1970er-Jahren – je nach Sichtweise – als Mahner vor dem oder Ketzer wider den individualmotorisierten Mainstream in Erscheinung. Und der emeritierte TU-Professor tut genau das auch im vorliegenden Buch: Er führt den Beweis, wie sehr das Automobil heute Teil von „urbi et orbi“, allem und jedem, ist. Dass das Virus nicht bloß verbreitet und aktiv ist, sondern die „Durchseuchung“ der Gesellschaft de facto lückenlos vollzogen ist. Weil das Automobil in Stadt- und Landschaftsbildern, in Bauordnung und Raumplanung eine nicht ansatzweise mehr in Frage gestellte, alternativlose Selbstverständlichkeit ist. Weil das Auto längst Teil der menschlichen DNA ist: Wir denken Auto. Wir sprechen Auto: „Ich stehe ums Eck.“ „Ich krieg gerade neue Winterreifen aufgezogen.“ „Ich habe eine Panne.“ Das ist ganz selbstverständlich. Warum? Wir sind Auto.

Knoflachers Beweisführung ist punktgenau-analytisch. Führt ins Detail und die Geschichte. Sie definiert Knack- und Wendepunkte des Technologie- und Mobilitätsdenkens: Von der Euphorie zum Dogma. Knoflacher markiert Demarkationslinien zwischen sinnvoller, für Aufschwung und Wohlstand wichtigen Entwicklung – und dem Erreichen und Überschreiten jener „kritischen Masse“, in der das Werkzeug zum Selbstzweck, der Segen zum Fluch und der Fortschritt zur Nemesis wurde. Weil längst die Maschine und ihre Bedürfnisse den Menschen lenken und steuern.

Wir sprechen Auto: „Ich stehe ums Eck.“ „Ich krieg gerade neue Winterreifen aufgezogen.“ „Ich habe eine Panne.“ Das ist ganz selbstverständlich. Warum? Wir sind Auto.

Tom Rottenberg

Knoflacher dokumentierte schon in den 1975 mit seinem „Gehzeug“ (einem tragbaren Holzgestell, das den Platzverbrauch des Autos in der Stadt veranschaulichte und heute weltweit von Verkehrsinitiativen „verwendet“ wird), pointiert und doch faktenbasiert, wie tief sich die „automindedness“ in alle Bereiche des Lebens gefräst hat. Er zeigt seit jeher, wie kritiklos Politik und Wirtschaft über Jahrzehnte hinweg Ressourcen, Raum und Werte den stets weiter und weiter reichenden Forderungen, Bedürfnissen und Wünschen des „Individualverkehrs“ unterwarfen. Wobei damit stets und ausschließlich den verbrennungsmotor-mobilisierten Teil von „Verkehr“ im Fokus stand und steht. Das in dieser Dichte zu lesen, tut immer wieder richtig weh.

Auch, weil Knoflachers Beweisführung so schlüssig ist: Der Verkehrsplaner beginnt mit dem §1 der Straßenverkehrsordnung. In dem wird die Straße – also der Wirkungsbereich des Gesetzes – grundsätzlich definiert. Und zwar als Raum, der „von jedermann unter den gleichen Bedingungen benutzt werden“ kann. Doch wo ausdrücklich „jedermann“ (gemeint ist natürlich auch „jederfrau“) im Gesetz steht, wird immer nur „Auto“ verstanden. Auto gedacht und Auto geplant: Der nicht-motorisierte Mensch, aber auch jede andere Art der Fortbewegung und in weiterer Folge Alltag, Freizeit, Wirtschaft, Planung und auch alles Denken wird dem Auto nachgestellt. Unterworfen.

Weil das Narrativ ja auch lautet, dass es ohne – oder einfach nur anders – nicht geht. Jene Generation, die Knoflacher in den 1970er-Jahren mit seiner auch schon damals „revolutionären“ und wild bekämpften Idee, Wiens Kärntner Straße und den Graben autofrei zu bekommen, massiv vor den Kopf stieß, konnte sich noch an nicht zur Gänze Steh- und Fahrzeugen geopferte Städte erinnern. Heute ist anders. Ganz anders. Umso schwieriger, schreibt Knoflacher, sei der Paradigmenwechsel: Das Infragestellen von Normalität wird umso schwieriger, je unvorstellbarer weil nie-erlebt oder nie-gesehen ein anderes Bild ist: Städte, in denen Gassen, Straßen und Plätze nicht zugeparkt sind? Ein ländlicher Raum, mit funktionierender, nicht zwingend auf ein oder zwei PKWs pro Haushalt ausgerichteter Infrastruktur? Ein Dorfplatz ohne Autos? Schon für unter 50-Jährige kaum, für Mit-Zwanziger oft komplett unvorstellbar – und wenn, dann nur als Albtraum. Die Dystopie einer Welt ohne Freiheit, Lebensqualität und Mobilität: Das „Virus Auto“ wird nicht als Virus wahrgenommen. Es ist nicht bloß Teil der Normalität – es steuert, regelt und bestimmt sie. Mehr noch: Es bringt das Heil. Ist ein Wert für sich. Das Auto ist Voraussetzung für alles, was das Leben gut, sicher und schön macht.

Das „Virus Auto“ wird nicht als Virus wahrgenommen. Es ist nicht bloß Teil der Normalität - es steuert, regelt und bestimmt sie. Mehr noch: Es bringt das Heil. Ist ein Wert für sich. Das Auto ist Voraussetzung für alles, was das Leben gut, sicher und schön macht.

Tom Rottenberg

Darum, schreibt Knoflacher, falle auch so gut wie niemandem auf, wie sehr auch alle amtlichen, offiziellen Regularien sich dem „Virus“ unterworfen haben: „Anstatt den Verursacher … an der Schädigung der menschlichen Gesundheit, aber auch des Ökosystems zu hindern, wird die Bevölkerung, wenn infolge der Autoabgase … gesundheitsschädigende Werte (die ohnehin viel zu hoch angesetzt sind) überschreiten, aufgerufen, sich in ihren Wohnungen aufzuhalten und Aktivitäten im Freien zu unterlassen.“ Das habe System, erklärt der Autor: „Nicht der Verursacher wird bestraft, sondern das Opfer muss zusätzliche Opfer bringen, damit der Verursacher – der Autofahrer – weiterhin ungehemmt agieren kann.“

Ob er ein „Autohasser“ sei, wird Hermann Knoflacher in fast jedem Interview gefragt. Die Frage, betont der seit 20 Jahren ohne eigenen PKW lebende Wissenschafter, entlarve den Fragesteller. Sie setze, erklärte Knoflacher zuletzt im „Standard“, voraus, dass „das Selbst zum Auto und das Auto zum Selbst wird,“ sei also „eine Folge des Autovirus.“ Trotzdem gibt es eine Antwort: „Ich habe zum Auto keine emotionale Beziehung, weil es ein technisches Gerät ist, eine Maschine, wie eine Kreissäge, Schleifmaschine oder ein Staubsauger.“ Niemand würde je ernsthaft fragen, ob der Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin „Staubsaugerhasser:in“ sei:  Einen Staubsauger emotional dermaßen zu überhöhen, würde zumindest als „bizarr“ gelten – im Umgang mit dem Auto ist derlei aber ganz normal.

Hermann Knoflacher: VIRUS AUTO 4.0 Lebensraum für Mensch und Natur in Stadt und Land

Alexander Verlag, Berlin 2023

Klappenbroschur. 432 Seiten. 68 Abb.. 13,5 x 21,5 cm

ISBN 978-3-89581-602-4.  20,– € *