Wieso manche Menschen nicht Radfahren ist weltweit und seit Jahren gut erforscht. Gut 60 Prozent würden prinzipiell gern im Alltag radeln, fürchten sich aber. Sie abzuholen wäre das Verkehrs- und Klimagebot der Stunde.

Reden wir wieder einmal übers Radfahren. Erstens, weil es Spaß macht. Zweitens weil es coronabedingt boomt. Und drittens, weil es kaum eine nachhaltigere, schnellere und effizientere Methode gibt, auf der Kurzstrecke von A nach B zu kommen: Dass das Fahrrad auf Strecken bis zu vier oder fünf Kilometern das mit Abstand intelligenteste Verkehrsmittel ist, ist alles andere als neu: Wenn mir jemand mit dieser Kiste kommt, schlafen mir die Zehen ein. Geht es abgelutschter? Langweiliger?

Umso dankbarer bin ich, dass Sie es bis hierher geschafft haben. Obwohl auch das, was jetzt kommt, nicht ganz neu ist. Es beginnt mit „Ich würde ja gern…“ oder „Ich weiß es eh …“, mündet aber ins „Aber“. Menschen, die nicht Rad fahren, haben 1000 Erklärungen dafür: Von fehlender Sportlichkeit über fehlende Hardware über die falsche Topografie reicht das bis zum angeblichen Killerargument, dem Wetter.

Nicht böse sein, aber hier kommt mein „Aber“: Das ist Blödsinn. Das sind Ausreden.

Wo 85-Jährige gemächlich (oder per E-Bike) zum Supermarkt fahren können, können Sie das auch – niemand erwartet, dass sie die Tour de France gewinnen.

Wenn sie keine 5000€ für einen Carbon-Boliden ausgeben wollen: Auf willhaben & Co gibt es Gebrauchtbikes manchmal sogar im zweistelligen Eurobereich (und von „sauberen“ Verkäufern). So gebirgig, dass Radfahren unmöglich ist, ist es in den besiedelten Regionen Österreichs kaum. Und das Wetter? Das Narrativ passt nicht zur Statistik: Tage, an denen es tatsächlich regnet, stürmt, schneit oder hagelt, an denen Blizzards und Sandstürme das Land knechten, sind mehr als rar. Absolut und im Vergleich: Radmetropolen wie Amsterdam, Bremen oder Kopenhagen haben weit „unfreundlicheres“ Wetter. Darum: Sagen sie einfach „ich will nicht“ – aber lassen Sie die Ausflüchte.

Die Angst

Wobei es doch ein Argument gibt, gegen das ich wenig sagen kann: „Ich habe Angst.“ Das ist ein Punkt. Angst ist subjektiv. Da geht „Wegreden“ nur eingeschränkt. Angst und Nicht-Radfahren sind aber ein Henne-Ei-Thema: Wer sich traut, verliert die Angst sehr rasch – aber dafür müsste man es eben probieren. Außerdem: Würden mehr Leute fahren, würde man selbst ja auch … noch einmal Henne und Ei.

Alltagsradfahren als mehrheitstaugliches Mobilitätskonzept steht und fällt genau damit: Mit der Zahl derer, die es tun. Also jener „kritischen Masse“, die erreicht werden muss, damit aus Freakshow Mainstream wird. Für das urbane Radfahren gibt es da spannende Grundlagenforschung. Und egal wo man die Frage stellt: die Ergebnisse sind immer ziemlich deckungsgleich.

Ein Fahrrad steht auf einer schwach beleuchteten Straße in Wien, mit verschwommenen Lichtern und einer Gestalt im Hintergrund. Radsportbegeisterte werden den ruhigen Charme dieser urbanen Szene zu schätzen wissen.

Die Frage „wie viele Menschen fahren in XY Rad“ ist einfach zu beantworten: man zählt. Interessanter wird es, wenn man genauer schaut: Hinterfragt, wer Rad fährt, wer nicht – und warum. Als man das in Portland (Oregon) das erste Mal machte, stellten die Fragesteller rasch fest, dass sich die Bevölkerung radpolitisch in vier Gruppen aufteilen lässt: Ein Drittel will, kann und wird nicht aufs Rad steigen. „No Way, No How“, nannte man dieses Segment in Oregon. Zu versuchen, diese Menschen zum Radfahren zu überreden, ist sinnlos. Das Gleiche gilt auch am anderen Ende des Spektrums: Auch der Gruppe der sogenannten „Strong & Fearless“ kann niemand das Radfahren schmackhaft machen – sie tun es nämlich ohnehin. Egal, wie dicht und laut und bedrohlich der Verkehr, egal wie desolat die Radwege sind. Radfahren ist für sie Lebensform und „Way of Life“ – allerdings fallen etwas weniger als ein Prozent der Bevölkerung in diese Kategorie.

Die Vorbilder

Im Alltagsverkehr sieht man allerdings nicht nur diese „Strong and Fearless“, sondern auch eine zweite Gruppe: „Enthusiastic & Confident“ werden sie genannt. Menschen, die „das Richtige“ tun wollen und es tun, sobald es halbwegs geht – auch weil sie mit gutem Beispiel voran gehen wollen: Etwa sieben Prozent der Bevölkerung sind das beim Radeln. Nicht nur in Oregon, auch in Europa entsprach und entspricht das in etwa den Radler*innenquote, sobald es ein zumindest rudimentäres Radwegenetz gab.

Nur: Bei 33 Prozent „No Way, No How“, knapp einem Prozent „Strong & Fearless“ und sieben Prozent „Optimist*innen“ fehlt noch eine ganz Menge. 60 Prozent – also die große Mehrheit. Was ist mit der? Ganz einfach: das ist die „wir würden gerne, trauen uns aber nicht“-Gruppe. „Interested but Concerned“ nannte man sie zunächst in Portland. Und dann überall dort, wo die gleichen Fragen gestellt wurden – und auch die gleichen Ergebnisse lieferten.

Ein Mann im karierten Hemd fährt mit dem Fahrrad durch eine Wiener Straße, kommt an Gebäuden mit großen Fenstern vorbei und genießt das urbane Radfahren.

Und jetzt?

Das Fazit ist eine Binsenweisheit: Wer diese Menschen aufs Rad bringen will, muss sie „abholen“. Wer ihnen die Angst nehmen will, muss also zunächst den Rahmen dafür schaffen – und Autos bändigen. Sie bremsen, ihre Zahl reduzieren.

Autos also nicht nur den Raum und die Geschwindigkeit in der Stadt, sondern auch das Primat, den Wertigkeits-Vorrang, nehmen.

Wer Radfahrer*innen will, muss dafür aber nicht nur bei der Infrastruktur in „Vorleistung“ gehen, sondern auch am Narrativ schrauben. Etwa indem man Konflikte zwischen Rad- und Fußverkehr vermeidet und verhindert – und dort, wo es sie schon gibt, nicht mit dem Finger auf „die bösen Radler“ zeigt, sondern Ursachen benennt und bekämpft: Von Straßen, auf denen Radfahren sicher und angstfrei möglich ist, wechselt kein Radler, keine Radlerin, auf den Gehsteig. Wo Rad- und Fußverkehr zur „Schonung“ ruhender wie rasender Autos zusammengepfercht werden, sind Konflikte aber vorprogrammiert. Und: Wo politische und andere Verantwortungsträger*innen statt mit dem Dienstwagen mit dem Rad unterwegs sind, macht auch das Schule. Wird Radfahren selbstverständlich. Und damit mehrheitsfähig.

Apropos Schule: In den Niederlanden fahren 46 Prozent der unter 12-Jährigen mit dem Rad zur Schule.

Die meisten Wiener Eltern würden derlei nie und nimmer zulassen. Leider ist das vernünftig und auch nachvollziehbar. Aber: Nicht nur der Vergleich zwischen der holländischen und der Wiener Rad-Infrastruktur, auch das Rad-Selbstverständnis hier wie dort erklärt, wieso es so ist.

Dass Wiens Radverkehrsanteil von sieben oder acht Prozent gut zu den internationalen Nutzungs-Gruppen-Erhebungen passt, passt in dieses Bild: Es geht nämlich nicht darum, den schon Fahrenden zu sagen, wie toll sie sind – sondern endlich jene 60 Prozent abzuholen, die das Rad längst als grundsätzlich sinnvolle innerstädtische Mobilitätslösung erkannt haben – aber Angst haben. Und abwarten: Die Leute sind ja nicht blöd. Sie können Wahlkampfreden, Foto- und PR-Aktivismus gut von gelebter Politik unterscheiden – und steigen genau deshalb nicht aufs Rad.