Florence Holzner beschäftigt sich seit 35 Jahren mit alternativen Bildungszugängen. Im aktuellen Interview erzählt die ehemalige Schulabbrecherin über das Projekt Colearning Wien, ein Vorzeigeprojekt für zukunftsweisende Bildung.

Colearning Wien – klingt vielversprechend, aber was ist das eigentlich?

Das Colearning Wien ist keine Schule im klassischen Sinn. Ich würde uns eher als einen Haufen lernbegeisteter Menschen bezeichnen, die herausfinden wollen, wie man bis zur Matura begeistert lernen kann. Wir glauben, dass die Trennung zwischen Arbeitsleben und Schule überholt ist und es wichtig ist, neue Wege auszuprobieren, eine Verschränkung zu leben. Wir alle finden Lernen irrsinnig cool. Aktuell sind wir zwölf Kinder und acht Erwachsene.

Eine Verschränkung von Schule und Arbeiten?

Die meisten Erwachsenen im Colearning sind keine Lehrer, sondern Eltern, die ihre Kinder zum häuslichen Unterricht abgemeldet haben und sie begleiten. Die meisten Eltern haben einen Beruf. Manchmal binden sie die Kinder in die Arbeit mit ein, teilweise aber auch nicht, das ist sehr unterschiedlich. Wir versuchen unsere Arbeitserledigungen auch vor Ort unter den Kinder zu machen, damit die Kinder auch dieses Arbeiten mitbekommen.

Wie strukturieren Sie sich?

Wir sind draufgekommen, dass die Art, wie wir arbeiten, sehr gut mit SCRUM zu erklären ist:

Das ist eigentlich ein Tool zur Softwareentwicklung, es ist ein agiles Arbeiten. Wir sind sehr gut im Definieren von Zielen, aber es muss dabei nicht jeder Schritt eingehalten werden. Außerdem haben wir keinen Anspruch auf Perfektionismus. Mit dieser Methode können wir, egal ob Kind oder Erwachsener auch immer sehen, wo jede/r steht und ob was unter den Tisch fällt. Das macht alles auch leichter. Generell gibt es Zwei-Wochen-Pläne, manchmal auch Monatspläne.

Wie läuft ein typischer Tag ab?

Wir treffen uns um 8.45 Uhr, damit wir um 9.00 Uhr loslegen können. Morgens machen wir eine kurze Morgenrunde, manchmal nur im Stehen. Wir schauen, ob jede/r alles hat, damit er/sie in den Tag starten kann. Am Montag ist die Morgenrunde oft etwas länger, da sitzen wir wirklich im Kreis und besprechen kurz die Woche. Um 12.30 Uhr ist Mittagessen, dann bis 14.00 Uhr Pause und Ausruhen. Nachmittags von 14.00 – 17.00 Uhr gibt es unterschiedliche Aktivitäten, wir haben einen großen Wunschzettel jedes Jahr, was alle tun wollen.

Das klingt alles sehr entspannt, gibt es keinen Druck oder Stress?

Natürlich gibt es „must haves“, zum Beispiel die jährlichen Überprüfungen der Kinder durch die Behörde. Außerdem müssen die Kinder auch lernen, dass man gewisse Dinge erledigen muss. Auch die Erwachsenen müssen ihren Job erledigen und haben manchmal Zeitdruck oder Abgabetermine.

Was hilft Ihnen bei der Selbstorganisation?

Wir stehen alle in engem Kontakt zueinander. Am Donnerstag Nachmittag von 13.30 Uhr bis 15.30 Uhr sitzen wir alle zusammen – die Erwachsenen und die Kinder – und tauschen uns aus, wie die Woche gelaufen ist. Danach setzen sich die Erwachsenen nochmal von 16.00 Uhr bis 18.00 Uhr zusammen. Das hilft ungemein. Es ist oft ein „Rumeiern“, aber hier ist Platz für Emotionen, Wogen werden geglättet. Wenn wir das nicht haben würden, dann wäre die Gefahr, dass die Emotionen woanders ausgetragen werden. Es sorgt also für eine entspannte Stimmung. Wir brauchen eigentlich erstaunlich wenig Zeit für die Organisation. Es hilft sehr, dass wir das Gefühl haben, dass alle einander sehr zugetan sind. Es gibt ein großes Grundvertrauen und wir haben eine hohe Fehlertoleranz.

Hohe Fehlertoleranz?

Jeder akzeptiert selbst nicht perfekt zu sein. So kann man auch bei den anderen tolerant sein, zum Beispiel, wenn etwas vergessen wird, jemand zu spät kommt. Also genau hinzuschauen, wo es Sinn macht einen weichen Blick zu haben. Wir überprüfen auch regelmäßig mit den Kindern gemeinsam, ob die ausgemachten Regeln noch Sinn machen oder ob sie adaptiert werden müssen. Wir haben keinen sehr hohen Perfektionsanspruch. Wir sind im Grunde ein lernendes Unternehmen. Aber wir sind nicht immer grundentspannt. Bei den Vorbereitungen für die Prüfungen sind wir total dran, da geht es um etwas, da sind wir auch angespannt, aber das funktioniert auch sehr gut.

Können Sie noch etwas über die Selbstorganisation der Kinder erzählen?

Das ist wirklich sehr herausfordernd und auch ein großes Lernfeld, oft auch für die Eltern. Wir haben gelernt Helikopter-Eltern zu sein und nehmen damit den Kindern die Selbstorganisation weg. Wenn die Kinder bei uns sich etwas wünschen, starten die Eltern manchmal los und organisieren das. Aber dann ist wenig Lerneffekt da. Die Kinder müssen selbst aktiv werden, so werden sie selbstbestimmt. Wenn die Eltern zu toll sind, dann machen die Kinder weniger, sie sind dann oft schlapper.

Als ich eine junge Mutter war – ich habe mit 18 mein erstes Kind bekommen – da war ich sehr beschäftigt mit Ausbildung und hatte weniger Zeit meiner Tochter Dinge zu organisieren. Sie war gezwungen selbst aktiv zu werden. Aber ich habe ihr sehr wohl vorgelebt, wie man sich für eine Sache einsetzt, wenn man sie erreichen will und so Dinge in die Wirklichkeit bringt.

Sehen Sie sich als Forschungslabor für Bildung?

Absolut – zumindest so etwas in dieser Art. Wir bieten ein Experimentierfeld, wie Schule und Arbeiten verschränkt funktionieren kann. Wir sind dabei viele Dinge auszuprobieren und wie ein Zusammenwirken entsteht. Dabei scheitern wir, stehen wieder auf und machen weiter.

Wir haben auch viel Besuch, auch von Lehrer*innen aus dem „normalen“ Schulbetrieb. Sie sehen sich alles bei uns an, manchmal verbringen sie auch einige Zeit bei uns. Viele unterrichten gerne, sind aber vom Alltag frustriert.

Sehen Sie sich als Gegenpol zur Regelschule?

Nein, auf keinen Fall! Ich finde alles, was ins Extreme geht, sehr anstrengend. Die absoluten Freilerner, die sagen, dass Kinder zu jeder Zeit das tun sollen, wozu sie Lust haben. Aber diese 50-Minuten-Einheiten in der Schule sind völlig ungeeignet, um sich ins Lernen zu vertiefen. Ich möchte nicht auf Begriffen herumreiten. Wir sehen uns als Teil einer Bewegung, die gerne etwas Neues wagen, aber noch wenig fix definieren kann. Wir möchten, dass sich alle gegenseitig unterstützen in ihrem Tun, sodass wir alle zu einer neuen Lernbegeisterung finden können.

Sie haben ja mittlerweile schon sehr viel Erfahrung gesammelt. Gibt es eine Essenz, etwas, das Sie über all die Jahre immer begleitet hat?

Es gibt eigentlich 3 Prinzipien, die immer gleich geblieben sind:

– Wir haben alle wirklich Spaß am Lernen.

– Für Kinder und Jugendliche ist es wichtig, wo dazuzugehören.

– Wir suchen alle Abenteuer und möchten spannende Sachen ausprobieren.

Gibt es etwas, dass bei Kindern und Jugendlichen im Lernen anders funktioniert?

Ich hab die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche auch körperliche Arbeit brauchen. Tische schleppen, Räume einrichten. Die ganze Zeit zu sitzen und für die Matura zu lernen ist nicht so ideal. Sie gehören eigentlich aufs Land, dorthin, wo sie ihren Körper spüren können. Dann können sie im Körper und im Leben ankommen. Wenn ich etwas weiterbringen will, muss ich zuerst im Körper angekommen sein.

Haben Schulen, so wie sie jetzt sind, überhaupt eine Chance ein Umfeld für Lernbegeisterung zu sein?

Schulen können sehr viel selbst bestimmen und verändern. Ich weiß sogar von einer Schule in Wien, die das Stundensystem abgeschafft hat. Im Grunde geht es um Beziehungen, es geht um die Lehrer*innen selbst und um die Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen. Viele Lehrer*innen sind jetzt schon von ganzem Herzen für ihre Schüler*innen da, stecken aber oft in einem System fest, das sie nicht unterstützt. Gut ist auch, wenn man diesen Perfektionsanspruch nicht mehr hat, wir alle sind unperfekt und es reicht aus. Es entstehen sogar großartige Dinge daraus.