Es gibt keinen größeren und bunteren Reichtum als die Vielfalt der Natur. Allein in der Insektenwelt sind rund eine Millionen Arten wissenschaftlich beschrieben, viele weitere wurden bis dato noch nicht mal entdeckt. Während der Mensch diese unvorstellbare Artenvielfalt bedroht, hat er diesen unbeschreiblichen Schatz bei Weitem noch nicht verstanden. Während nicht mal fünf Prozent der eigenen Meere geschweige denn ihrer Bewohner:innen erforscht wurden, suchen wir zeitgleich im Weltall nach bewohnbaren Planeten.

Dabei ist ein genauerer Blick in die Natur mehr als lohnenswert. Denn betrachtet Mensch den Zeitraum seit der Entstehung des Lebens, so machen die heute lebenden Arten gerade einmal ein Prozent der Lebewesen aus, die jemals auf der Erde gelebt haben. Heißt auch: Dieser eine Prozent hat sich trotz widrigster Bedingungen durch kreativste Anpassungsstrategien über Jahrmillionen hinweg durchgesetzt. Mit Blick auf die großen Herausforderungen unserer Zeit, ob Klimakrise oder Pandemien, sollten wir endlich von diesen Überlebenskünstlern zu lernen beginnen, erklärt mir die Zoologin und Fachexpertin Caroline Reinwald. Einige Beispiele lassen das in der Natur schlummernde Potenzial dabei nur erahnen.

Blattschneideameisen als Lebensretter?

„Der menschliche Schöpfergeist kann verschiedene Erfindungen machen (…), doch nie wird ihm eine gelingen, die schöner, ökonomischer und geradliniger wäre als die der Natur, denn in ihren Erfindungen fehlt nichts, und nichts ist zu viel.“ – Leonardo Da Vinci

Vom Haftungsvermögen von Geckos bis zum Vogelknochenbau für leichtere Flugzeuge: zahlreiche Erfindungen der Menschheit orientieren sich bereits heute am Vorbild der Natur. Bionik ist dabei jenes Forschungsgebiet, das die Biologie mit Technologie vereint. Bioniker nutzen dabei das große Reservoir an biologischen Strukturen, Prozessen und oft überraschenden funktionalen Lösungen, die in Milliarden Jahren evolutionärer Entwicklung erprobt und optimiert wurden.

Aber auch in anderen Forschungsfeldern bietet uns die Schatzkammer der Natur noch zahlreiche Möglichkeiten. So auch in der Medizin. „Blattschneiderameisen mögen einen auf den ersten Blick hin nicht so fesseln wie die Schönheit eines Chamäleons oder eines Jaguars, sie haben es aber ganz schön drauf. Sie sind DIE Experten, wenn es um die Vorbeugung Antibiotika-resistente Keime geht“, beschreibt Reinwald. Allein 2019 starben nach einer Studie weltweit rund 7,7 Millionen Menschen an resistenten Keimen, die somit auf Platz zwei der häufigsten Todesursachen landen.

Investitionen in Natur- und Artenschutz erscheinen mit Blick auf solch einen Jahrmillionen alten Wissensschatz vor unserer Haustüre lohnenswerter denn je.

Caroline Reinwald

Zoologin

Namensgebend für diese Gruppe von Ameisen ist, dass sie mit ihren stark ausgebildeten Mundwerkzeugen Blätter zerschneiden können. Statt diese zu fressen, kultivieren die Ameisen in ihren unterirdischen Nestern mit den zerkauten Blattstücken Pilze. Reinwald: „Es sind die Pilze, die den Ameisen als Nahrungsgrundlage für sich selbst und ihre Brut dienen. Und hier wird es spannend: Um “ihre” Pilze vor Schadpilzen zu schützen, besitzen die Ameisen auf ihrer Haut (Cuticula) Bakterien der Gattung Streptomyces. Diese produzieren wiederum Stoffe mit antibakterieller oder fungizider Wirkung. Der wichtige Punkt hierbei ist, dass die Bakterien verschiedene dieser Substanzen gleichzeitig erzeugen, es kommt zu einem sich stetig ändernden Cocktail von Substanzen, an die sich andere Bakterien und Pilze nicht schnell genug anpassen können. Kurzum: Diese Tiere haben es geschafft, seit Jahrmillionen Antibiotika zu verwenden, ohne Antibiotika-Resistenzen hervorzubringen. Davon können wir nur träumen.“ Eines der kleinsten Lebewesen des Planeten könnte demnach die Lösung für eine der häufigsten Todesursachen bereithalten – die Forschung läuft auf Hochtouren.

oekostrom AG: Eine Pipette gibt rosa Flüssigkeit in transparente Reagenzgläser ab, die in einem Gitter auf einem Tablett angeordnet sind.

Gegen Schmerzen und Krebs: Nacktmulle als Hoffnungsträger

Nur langsam altern und ein Krebs-Risiko, das fast bei Null liegt? Das sind nur zwei von vielen Gründen, warum die Wissenschaft das Rampenlicht bereits seit Längerem auf Nacktmulle richtet. Die zugegeben wenig ansehnlichen Säugetiere vereinen Eigenschaften, die sie auch höchstinteressant für die Medizin machen.

„Nacktmulle leben in einer Umgebung, in der viele Tiere nicht bestehen können. In ihren unterirdischen Gängen herrscht neben einer sehr niedrigen Sauerstoff- auch eine hohe CO-Konzentration, die zu einer Übersäuerung des Gewebes der Tiere führt“, erklärt Reinwald. „Was für andere Arten Scherzen bedeuten würde, macht dem Nacktmull nichts aus. Offenbar schaffen es die kleinen Säugetiere ihre neuronale Reaktion, also ihr Schmerzempfinden auszuschalten.“  Für die Medizin könnten die Tiere gerade mit Blick auf Schmerztherapien, aber auch auf die Krebsforschung ein absoluter Gamechanger sein. Denn: „Es wurde beobachtet, dass Nacktmulle so gut wie nie Krebs bekommen. Sie werden auch deutlich älter als Nagetiere ähnlicher Größe. Es ist einmal mehr erstaunlich, was die Natur hier hervorgebracht hat. Das Potenzial für Medizin und Mensch ist enorm“, erläutert Reinwald.

Investitionen in Natur- und Artenschutz erscheinen mit Blick auf solch einen Jahrmillionen alten Wissensschatz vor unserer Haustüre lohnenswerter denn je.