Das zutiefst Menschliche in uns zu entdecken wird unsere wichtigste Aufgabe im 21. Jahrhundert sein“, so Gerald Hüther. Er ist bekannt als Hirnforscher, Neurobiologe und für seine Bücher. Von seinem Bestseller „Würde – Was uns stark macht – als Einzelne & als Gesellschaft“ bis zu seiner Neuerscheinung – ebenso ein Spiegelbestseller – „Lieblosigkeit macht krank“ wird er von einem breiten Publikum für seine lebendige und verständliche Vermittlung von Wissenschaft wertgeschätzt. In einem 50-minütigen Online-Dialog spricht er in einer gewohnten Klarheit, mit „nährstoffreichem“ Wissen über menschliche Qualitäten, die es in den nächsten Jahren v.a. wegen herausfordernden Krisen bedarf, über seine neue Initiative „liebevoll.jetzt“ und warum der Mensch immer noch im Übergang vom Affen zum Homo Sapiens ist.

Was wir im Augenblick sehen, ist, dass sehr viele Menschen ihre Verbundenheit zum Lebendigen weitgehend verloren haben.“ Wenn Gerald Hüther vom Lebendigen, von der Lebendigkeit spricht, spricht er von der Natur des Selbst, das über die Ich-Begrenzung hinausgeht. Von dem, das in uns allen ist, von dem wir umgeben sind. Doch die Form des individuellen, kollektiven Egoismus macht eben „Lärm“, wodurch wir das überhören, übersehen, was eigentlich auch da wäre – genau genommen stets ist, und obendrein nährt, verbindet. „Als Hirnforscher kann ich sagen, dass das durchaus verständlich ist, weil wir Menschen ja keine fest-gefügten genetischen Programme haben, die uns dann dazu bringen, uns einigermaßen so zu verhalten, dass wir nicht ins Unglück rennen. – Wir leiten unser Denken, Fühlen und Handeln von den Vorstellungen ab, die wir im Laufe des Lebens gewonnen haben, worauf es denn im Leben ankommt. – Wir sind im tiefsten Sinne eben Suchende. Und das Merkmal eines Suchenden ist es, dass er sich verirren kann.“ Findet er den Weg nicht mehr zurück, dann führt dies dazu, so Hüther, dass der Lebensweg irgendwann immer unbegehbarer wird, immer mehr Widersprüche entstehen. Und dann ist es meistens nur noch über eine tiefe Rückbesinnung möglich, den Weg wiederzufinden. – Und ja, wenn man das nicht freiwillig will, dann muss man warten, bis es wirklich nicht mehr weitergeht und man in einer Lebenskrise oder in einer gesellschaftlichen Krise, wie jetzt der ‚Corona Krise‘ gelandet ist.“ Gerald Hüther ist der Auffassung, dass Kinder so früh und viel wie möglich Naturerfahrungen machen sollen, und empfiehlt dies immer noch, doch für Erwachsene versucht er es über einen anderen Ansatz: “Es gibt etwas, was sozusagen das Lebendigste ist, und uns am allernächsten ist. Und das ist nicht draußen die Natur. Das ist unsere eigene Lebendigkeit und deshalb könnten wir uns auch gegenseitig helfen, unsere eigene Lebendigkeit wieder zu entdecken.

Ein guter Schulabschluss ist kein Indikator für Intelligenz, sondern Ausdruck besonders guter Anpassungsfähigkeit.

Doch was braucht es für Kinder in den Schulen, damit Leben gelingt? „Kinder brauchen die Fähigkeit Konflikte zu lösen, die Fähigkeit herauszufinden, was sie überhaupt auf dieser Erde wollen. Sie müssen das Bedürfnis verwirklichen können, was so stark in jedem Kind angelegt ist, sich um etwas zu kümmern, für etwas auf dieser Erde wichtig zu sein – nicht nur für ihr Meerschweinchen. – Aus Gründen, die wir wohl nur selbst herausfinden können, verwehren wir ihnen diese Möglichkeit, sich aus eigenem Antrieb für etwas einzusetzen, das ihnen wichtig ist. Und damit verhindern wir, dass sie sich mit dieser eigenen Lebendigkeit und der daraus erwachsenden Freude am Entdecken und Gestalten, also am Lernen verbinden.

Potential entfalten & liebevoll aufblühen

Aus der „Akademie für Potentialentfaltung“ hat Gerald Hüther die Initiative liebevoll.jetzt ins Leben gerufen. Damit sollen Menschen eingeladen, ermutigt und inspiriert werden, unabhängig von den jeweiligen äußeren Gegebenheiten, wieder liebevoller mit sich selbst umzugehen und sich auf diese Weise wieder mit ihrer eigenen Lebendigkeit zu verbinden. „(…) denn so kann das eigene Grundbedürfnis nach Verbundenheit und nach Autonomie gestillt werden. Menschen erleben sich dann wieder als Gestalter ihres eigenen Lebens.

Kein Mensch kann das in ihm angelegte Potential entfalten, wenn er in seiner Würde von anderen verletzt wird oder er gar selbst seine eigene Würde verletzt.

Seines Erachtens bedarf es für diesen Transformationsprozess „… so etwas wie ein inneres Erwachen, ein Wiederverbinden mit dem Lebendigen. Am Ende geht es darum, dass wir uns von der bisherigen rein kognitiv-gesteuerten Vorstellung befreien, wir könnten mit unserem Verstand die Welt und vor allem auch alles Lebendige beherrschen, dazu zählt auch die Idee, wir seien in der Lage, ein Virus zu besiegen!“ Hüther ergänzt aber auch: „Natürlich finde ich die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen sehr wichtig. Aber in der gegenwärtigen Phase der Menschheitsentwicklung, geht es darum, unsere enormen kognitiven Fähigkeiten mit dem Bemühen um die Entfaltung des Lebendigen verbinden. Wenn ich meine kognitiven Fähigkeiten dafür einsetze, mich in meiner eigenen Lebendigkeit zu erleben, dann ist das eine völlig andere Qualität.“ Die Klimakrise ist zweifelsohne ein Ausdruck der “Entfremdung des Menschen“ von seiner eigenen Natur. Es berührt nur wenige, ob Fleisch aus Massentierhaltung auf ihrem Teller landet, die Meere „leer“ gefischt werden, dass der brasilianische Regenwald abgeholzt wird und ganze Ökosysteme kollabieren. Wilhelm Reichs Diagnose würde lauten: „Die Menschheit ist verpanzert.“ Zu vielen Manschen fällt es schwer, in eine stärkende Beziehung zu treten, mit anderen, mit der Natur und zuallererst mit sich selbst. Es entsteht der Eindruck, als würde die Menschheit die Klimakrise benötigen, um endlich zu erkennen, dass der Mensch nicht nur Teil der Natur ist, sondern Natur ist. „Wir sind noch immer mit den gleichen Denkweisen unterwegs wie vor ein paar Tausend Jahren – nur unsere Wirkungsmacht ist inzwischen nicht nur lokal, sondern auch global immens gestiegen. D.h. jetzt sind wir nicht mehr irgendwo in einem kleinen Dörfchen und machen ein wenig kaputt. Jetzt machen wir mit der gleichen Grundhaltung wie damals die ganze Welt kaputt und das ist die neue Dimension. – Doch langsam merken wir, dass es so nicht weitergeht. Jetzt sind wir mit einer Situation konfrontiert, mit der wir nie konfrontiert wurden, nämlich dass wir uns selbst umorganisieren müssen, damit wir noch in diese Welt passen. – Sonst ist es vorbei. Das kann ich auch als Biologe sagen. Wenn eine Spezies sich als unfähig erweist, ihre eigenen Lebensgrundlagen zu erhalten, dann war es das eben. Dann ist das ein Fehlversuch der Evolution des Lebendigen gewesen.

Ein Plädoyer fürs Mit-ein-ander

Hüther verweist auf die Notwendigkeit der Wiederentdeckung unserer eigenen Eingebundenheit in diesen Entfaltungsprozess des Lebens, auf etwas mehr Umsicht, Demut und Dankbarkeit. „Ich glaube, es wäre schon viel gewonnen, wenn wir uns alle helfen würden, ein bisschen bescheidener zu sein und uns darüber verständigen könnten, dass hier gar keiner weiß, wie das Leben geht. – Doch wenn nur fünf Leute ihre Hirngrütze sozusagen zusammenwerfen, also ihr Wissen, ihr Können, ihre Vorstellungen und Erfahrungen miteinander austauschen und teilen, steht fünfmal so viel Gehirn zur Verfügung. Und diese Art von Co-Kreativität macht es möglich, die in jedem einzelnen Leben gemachten Erfahrungen, durch Austausch und Zusammenwirken für alle verfügbar zu machen. Dieses Modell heißt ‚individualisierte Gemeinschaft‘. Dabei kommt es auf jeden Einzelnen an. (…) Gegenwärtig haben wir das noch nicht so recht verstanden, aber noch ist Hoffnung. Und ich, als Biologe, finde es sehr bemerkenswert, dass das Leben eine Lebensform hervorbringt, die zu erkennen und zu bewahren imstande ist, was das Leben für seine Entfaltung braucht. Wir Menschen haben die Befähigung, uns dessen bewusst zu werden und uns darum zu kümmern. Aber wir können diese Chance auch verpassen, weil wir Vorstellungen verfolgen, die diesen Entfaltungsprozess des Lebendigen blockieren und uns möglicherweise sogar dazu bringen, die ganze Welt in Schutt und Asche zu legen. Aber ein paar Würmer würden auch dann im Meer schon noch übrigbleiben. Und dann geht es eben von denen aus wieder los und es würde sich wieder eine Lebensform herausbilden, die in der Lage ist, sich ihrer Eingebundenheit in diesen Lebendigen Entfaltungsprozess bewusst zu werden. Vielleicht ist dies dann eine Lebensform, die tatsächlich in der Lage ist, auch diesen letzten Schritt zu gehen, nämlich zu begreifen, was das Leben braucht, damit es sich entfalten kann.“ Mit einem Grinsen im Gesicht, ergänzt Hüther: „Konrad Lorenz, Verhaltensforscher, hat uns das aber noch zugetraut, indem er sagte: Der Übergang vom Affen zum Menschen, das sind wir.‘

Dr. Gerald Hüther

Autor & Neurobiologe. In seiner Öffentlichkeitsarbeit versteht er sich als „Brückenbauer“ wissenschaftlicher Erkenntnisse und gesellschaftlicher bzw. individueller Lebenspraxis. Ziel seiner Aktivitäten ist die Schaffung günstigerer Voraussetzungen für die Entfaltung menschlicher Potentiale und ebenso liebevollen Umgangs.