Ich bin ein schlechter Mensch. Das ist an sich nichts Neues. Ich habe es an dieser Stelle schon öfters zugegeben. Tun Sie jetzt also nicht so, als wären Sie überrascht.

Andererseits war ich unlängst über meine Schlechtmenschigkeit selbst baff. Denn mit dieser Facette des „Ein-schlechter-Mensch-seins“ hatte ich nicht gerechnet: Schließlich sind Radfahrende grundsätzlich gut. Zumindest aus der Sicht anderer Radfahrender. Also so gut wie jeder und jede und alle in meiner „Bubble“. Aber: Denkste.

Was geschehen war? Nichts Besonderes. Nichts, was ich nicht seit Jahr und Tag auf dem Rad mache. Etwas, das mir sogar die Straßenverkehrsordnung ausdrücklich erlaubt: Als Radfahrer – generell: einspuriger Verkehrsteilnehmer (ob der Gesetzgeber Frauen da expressis verbis anspricht, weiß ich nicht) – darf ich an Kreuzungen nach vorne fahren. Das „Vorbeifahren an stehenden Kolonnen“ ist gemäß § 12 Abs. 5 StVO ausdrücklich erlaubt. Vorausgesetzt da ist genug Platz. Wieviel Platz „genug“ ist, definiert der Gesetzgeber nicht genau. Ebenso wie beim Überholtwerden durch Autos der Überholer entscheidet, was „ausreichender Seitenabstand“ ist, kann und muss das beim Vorbeifahren an der stehenden Kolonne also der oder die Radfahrende autonom entscheiden. Ob das die im Auto Sitzenden auch so sehen? Irrelevant. Mit der Zeit bekommt man als Radfahrer im Umgang mit empörten „Autisten“ ohnehin ein dickes Fell. Nicht nur beim Vorbeifahren.

Die Straßenverkehrsordnung, betonen Kommentatoren, Polizei und Autolobbyisten mantraartig, gilt auch für Radfahrer. Ganzheitlich. Auch am Radweg. Wobei ich zugeben muss, dass ich bisher nie darüber nachgedacht, ob die StVO auf meiner Seite ist, wenn ich an stehenden Radgruppen vorbei gefahren bin – und mich an einer Kreuzung vorne aufgestellt habe: Meistens sitze ich da am Rennrad. Aber auch am Stadtrad bin ich – erfahrungsgemäß – schneller als 75 Prozent der anderen Radwegbenutzer*innen. Und ausnahmslos schneller als Familien mit Kindern, Touristengruppen, Tretroller, Inlineskater*innen, Segwaywackler*innen oder Menschen auf Leihrädern. Bei all denen ist Überholen während der Fahrt zwar möglich, aber aufgrund der oft ungeübt-undisziplinierten Fahrweise genau dieser Klientel und der Enge der Radwege bei Gegenverkehr selten risikofrei.

Aber wenn sie stehen, hübsch hintereinander aufgefädelt, und der Gegenverkehr auf der anderen Kreuzungsseite auch steht, bin ich rasch und sicher vorne, bei Grün dann rasch und sicher weg – und unter Garantie niemandem im Weg. Wer schneller ist als ich, stellt sich meist ohnehin vor mir auf: Dafür bekommt man mit den Jahren ein Auge. Das kann natürlich auch irren – tut es aber eher selten.

Ich habe das jahrelang – ich fahre seit meinem 16. Lebensjahr im Stadtverkehr Rad – so gehalten. Und nie gab es ein Problem. Aber das war einmal.
Denn seit ein paar Monaten wird gepöbelt. Geschimpft. Gedroht. „Unsolidarisch“ und „rücksichtslos“ ist das Höflichste, was kommt. Manchmal fährt mir wer von hinten nach, stellt sich vor mir quer und „belehrt“ mich – bis die ganze Kolonne weg ist. Einmal schlug mir eine empörte (und mir nach vorne gefolgte) Frau am Vienna-Leih-City-Bike von hinten auf den Helm: „Unerhört! Am Rad glauben manche, dass alles erlaubt ist! Auf der Straße (sic!) geht das ja auch nicht.

Da fiel der Groschen: „Auf der Straße“ mache ich es auch so. Es ist legal. Nur stört das dort nicht Rad- sondern (manche) Autofahrer: „Lesen Sie die StVO – und leben Sie damit“, sag ich, wenn Sie mich drauf ansprechen – und bin weg.

Am Radweg gilt, de jure, das gleiche Recht. Aber de facto?
Ich schaute in ein paar Rad-Foren in den sozialen Netzen: Das Thema ist gerade richtig „heiß“. Und die Mehrheit ist sich einig, dass „Vorfahrer“, „Vorzieher“ oder – angebliche – „Vordrängler“ böse, unsozial, unsolidarisch oder weit Schlimmeres sind. Die StVO, §12, wird nie erwähnt.
Und da sich Menschen, die auf Social Media posten im Allgemeinen und ebendort aktive Radfahrer*innen im Besonderen grundsätzlich die Guten sind, ist hiermit bestätigt: Ich bin ein schlechter Mensch.

Aber wissen Sie was?
Auch in diesem Fall ist es mir egal.