Irgendwann ist es dann genug mit den Horrormeldungen. Virus. Klima. Kriege. Speicher voll. Nichts geht mehr. Alles prallt ab. Die Apokalypse lässt sich nicht aufhalten. Also wappnen wir uns mit Ignoranz und Zynismus. Das ist einfach. Und funktioniert.
Aber geht das nicht auch anders? Gibt es einen Plan B? Nicht, um die Welt zu retten. Aber um sie zu ertragen.
Ich habe es unlängst mit einem Museumsbesuch versucht. Nein, nicht im Urlaub. Auch bei keiner Sonderausstellung. Einfach so. Wann haben Sie das zuletzt gemacht? Was haben Sie gesehen? Und – viel wichtiger – was haben Sie mitgenommen?
Wenn Sie jetzt den Kopf schütteln, verstehe ich das. Denn als mein Lieblingsmensch sagte: „Genug Katastrophenschlagzeilen, wir gehen ins Kunsthistorische.“ war ich ratlos: Klar kann ich mich mit dem Blick auf alte Meister ablenken. Aber was ändert das?
„Du verstehst nicht“, sagte der Lieblingsmensch, „wir gehen nicht Schinkenschauen, sondern machen eine Thementour.“ Dann zückte sie ihr Handy – und öffnete eine App.
„KHM Stories“ heißt die. Und abgesehen davon, dass man da einen Museumsplan und die gängigen Infos zum Museum findet, sind darin Touren abgespeichert. Thementouren eben. Quer durchs Haus. Nicht zu einzelnen Bildern oder überlaufenen Sonderausstellungen, sondern zu wenigen, ausgewählten Werken – die ein roter Faden verbindet.
Wir entschieden uns für die neueste: „Schnee von gestern?!“ Untertitel: „Klima, Kunst und Katastrophen“. „Oft zeigen Kunstwerke das schwierige Verhältnis des Menschen zur Natur. Sie erzählen von Artenvilefalt, von zerstörerischen Kräften oder vom Klimawandel.“ Steht im Begleittext. Ich werde neugierig – bleibe auch skeptisch: Was sollen mir alte Werke über den Klimawandel, Overtourism oder Recycling erzählen können?
Aber dann stand ich vor dem ersten Bild. Ein Bruegel. Ziemlich berühmt. „Die Jäger im Schnee“ aus 1565. Aber anstelle der üblichen Museumstext kam da in der App ganz etwas anderes: Erzählungen über den Winter. Über die Angst vor und den Umgang mit der Kälte früher. Und ein bisher was interaktives: Eine Simulation wie diese (imaginäre) Landschaft bei einem oder zwei Grad mehr wohl aussehen müsste. Einen Klick weiter dann ein Interview mit einer Glaciologin – zu Klimawandel und dem, was jeder von uns dazu beiträgt. Und danach eine anschauliche Tafel zum ökologischen Fußabdruck jedes einzelnen.
Wow! Ich stand vor einem Bild aus dem 16. Jahrhundert – und war doch mitten in der Wirklichkeit. Ganz ohne Apokalypse.
Weiter ging es. Quer durchs Haus. Vorbei an tausend Meisterwerken, die einander beim „klassischen“ Museumsbesuch sonst so kanibalisieren, dass man am Ende genau nichts mehr präsent hat. Zu einer „Landschaft mit Vögeln“ (Roelant Savery, 1628). Ein relativ kleines Bild, das vermutlich sonst jeder übersieht. Das aber trotzdem hochspannend ist – insbesondere wenn man es unter den Aspekt „Artenvielfalt“, „Bioinvasoren“ & „Ausrottung“ ansieht: Da sind Vögel aus aller Welt drauf. Erklärt wird dazu, wie der Adel sich einst mit Papageien schmückte. Aber auch, wie der Dodo entdeckt wurde. Wie er als Skurilität nach Europa gebracht wurde. Und wie er ausstarb. Weil von den Schiffen der Entdecker unter anderem Ratten auf „seine“ Inseln kamen – und dem Vogel, der sein Verhalten nie Feinden oder Eierräubern hatte anpassen müssen, binnen kürzester Zeit den Garaus machten.
Nächster Raum. Naturkatastrophen: Rubens „Gewitterlandschaft“ (1620/25). Ein über die Ufer getretener Fluss, Unwetter, ein ertrunkenes Kind, sich an Felsen klammernde Menschen. Dazu Statistisches zu Zahl und Zunahme von Naturkatastrophen und ihren Folgen. Aber auch der enorme Restaurierungsaufwand durch das Klima der letzten Jahrhunderte für diese eine Gemälde. Weil es auf Holz gemalt ist – und schon die kleinsten Veränderungen in Luftfeuchtigkeit und Temperatur das Holz „arbeiten“ ließen.
Weiter. Zum Meer: Frans Snyders „Fischmarkt“ (1621): Überfluss und Vielfalt . Der Querverweis zu einem modernen Fischmarkt. Und zahlen und Fakten zu Überfischung und Perspektiven. Wieder: Ich stand und staunte. Nicht bloß über das, was hier so hochkonzentriert erzählt wurde – sondern auch über die Querverbindungen über die Jahrhunderte hinweg. Und darüber, wie spannend Dinge, die ich doch nicht mehr hören und sehen konnte, plötzlich waren. Und wie sehr ich mehr von dem wissen wollte, was ich doch eigentlich nicht mehr ertragen kann.
Und weiter: Overtourism – ein Canaletto aus Venedig. Quergeschnitten mit dem Sinken der Stadt und den Massen, heute. Eine Elfenbeinschnitzerei mit Phaetons Sonnenwagen-Geschichte: Artenschutz, Elfenbeinschmuggel – und der aus der Sage abgeleitete Verweis auf Dürre, Ozonloch und Hautkrebsrisiko durch ein Übermaß an UV-Belastung. Und die Kraft, die Energie, der Sonne.
Dann, zuletzt, neben der Saliera, ein prächtiger Pokal aus Onyx und Gold – der auf den zweiten Blick aus allerlei anderen Gegenständen und Objekten gefertigt wurde: „Upcycling“ nennt man das heute. Ressourcenmanagment. Rohstoffkreislauf.
Die Tour hatte ziemlich genau eine Stunde gedauert. Sie hatte mich an den „offiziellen“ Highlights des Museums vorbei geführt. Aber trotzdem hatte ich nicht nur mehr wahrgenommen, Also wirklich gesehen, als bei all meinen früheren Besuchen im KHM. Sondern auch mehr mitgenommen.
Nicht, dass die Katastrophen und Bedrohungen der Gegenwart plötzlich weniger dramatisch wären. Ganz im Gegenteil. Aber eben doch, dass es auch darauf ankommt, wie man sich Dingen stellt. Wie man über sie erzählt. Und wie man die Hoffnung nicht ganz aus dem Fokus verliert: In seinem dunklen, apokalyptischen Gewitterbild brachte Rubens doch einen kleinen Regenbogen – ein Stück Hoffnung – unter. Mitten im Inferno. Obwohl da eine Mutter ihr totes Kind im Arm hält.
Genau darum geht es: Man kann fürchterliche Geschichten auch korrekt und richtig erzählen – aber den kleinen Regenbogen auch vorkommen lassen. Nicht um schönzufärben. Aber um anderen zu helfen, eines nicht zu vergessen: Wir haben erst verloren, wenn wir aufgeben. Wenn wir aufhören Regenbögen zu malen – oder zu sehen.
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