In wenigen Jahren, erklärt die Tiroler Glaziologin Andrea Fischer, wird der letzte Gletscher in Österreich verschwunden sein. Dennoch warnt sie vor populistischem, vereinfachtem Gut-Böse-Denken, spricht sich gegen Verbote und rein obrigkeitsstaatliche Maßnahmen aus – und bricht eine Lanze für Wind- und Solarenergie aus den Alpen.
Frau Fischer, wie geht es den Gletschern in Österreich denn?
In den letzten drei Jahren haben wir etwa zehn Prozent der Gesamtfläche der Gletscher verloren, einige kleinere Gletscher sind vollständig abgeschmolzen. Während früher schon im September die Gletscher völlig unter Schnee lagen, der Gletschersommer mit ersten blanken Eisflächen erst im Juli begann und nicht mehr als die Hälfte der Gletscheroberfläche aper war, schmolz in den letzten Jahren der Schnee vollständig ab. Das Eis war über Monate bis in den Spätherbst hinein der Sonne ausgesetzt, die Temperaturen waren durchgehend über Null Grad, Sommerschneefälle blieben aus.
Wie werden die österreichischen Gletscherregionen in 5, 10 oder 15 Jahren aussehen?
Die Eisflächen werden selten werden, deren Farbe sehr dunkel, das Eis schuttbedeckt.
Was bedeutet das und was ändert sich dadurch im Landschaftsbild …?
Schon jetzt hat sich im Großteil des Jahres das Landschaftsbild deutlich geändert, weil die Gletscher statt mit gleißender Firnflächen mit dunklem Schotter bedeckt sind. Bevor die Vegetation diese Flächen zurückerobert, werden noch Jahre, eventuell ja auch Jahrzehnte vergehen.
Ich denke gute Wissenschaft muss Geschichten erzählen, die man verstehen kann. Diese Geschichten müssen auf Fakten beruhen - und auch darstellen, was man eben nicht weiß.
Andrea Fischer
Österreichische Glaziologin und Wissenschaftlerin des Jahres 2023Und was bedeutet das für Landschafts- und Siedlungsschutz, aber auch die Wasserversorgung in den betroffenen Regionen?
Es gibt vorübergehend eine Häufung von Massenbewegungen im Nahbereich der Gletscher, die sich aber in den meisten Fällen nicht bis ins Siedlungsgebiet fortsetzen. Wasser gibt es bei uns vor allem aus dem Niederschlag, in anderen Regionen der Erde spielt die Gletscherschmelze hier allerdings eine wichtigere Rolle.
Und was ergeben sich daraus für Umweltgefahren, was bedeutet das für die regionale Flora und Fauna …
Die Pflanzen wandern insgesamt nach oben, insbesondere die wärmeliebhabenden Arten, und verdrängen die Kälteliebhaber. Das setzt manche Arten unter Druck, die ehemalig vergletscherten Flächen sind wichtige Refugia für deren Überleben. Insgesamt kommt der Druck aber aus der Klimaerwärmung, dem Rückgang der Schneedecke und der Änderung des Niederschlagsregimes, nicht vom Gletscherrückgang. Das heißt aber auch, dass hier auch die Talräume und das Alpenvorland betroffen sind. Im Gebirge ist es für Arten einfacher Rückzugsräume zu finden.
Und nicht zuletzt: Was bedeutet das wirtschaftlich, allem voran im Tourismus?
Es wird nicht der Gletscherschwund sein, der sich vom Klimawandel wirtschaftlich am meisten durchpaust. Großräumige Schadensereignisse aus etwa Starkniederschlägen können Schäden an Privatem und öffentlichem Eigentum anrichten. Derzeit haben wir kein politisches Instrumentarium, das Risiko umzuverteilen, und auch Raumordnungsmaßnahmen zu setzen und abzugelten. Es wäre gut, diese Tools zu entwickeln, bevor Ereignisse uns so unter Druck setzen, dass durch Erreichen eines gesellschaftlichen Kipppunktes kein Konsens mehr darüber erzielbar ist, und die Verlierer des Klimawandels im Regen stehen gelassen werden.
Aber ist der Point-of-no-return da bereits erreicht, oder ist die Entwicklung noch reversibel? Und wenn ja: was wäre dafür notwendig?
Irreversibilität ist ein Begriff, mit dem man sehr vorsichtig sein muss, weil er in verschiedenster Weise gebraucht wird. Jeder kleine Hangrutsch ist irreversibel, der Stein wird ja nie wieder nach oben schweben und bei seinem früheren Nachbarstein liegen. Das ist aber auch irrelevant, weil Hangrutschungen und Wiederbesiedlung Teil eines stabilen Systems sind. Also muss man nach Stabilität und Resilienz fragen, und da gibt es keine scharfe Linie, was gut ist. Ein bisschen wie beim Zahnweh, schon beim Zahnen hat man Schmerz, immer wieder im Leben wird man die Zähne spüren, aber wichtig ist, dass es halt nicht so arg wird, dass man‘s nicht mehr aushält.
Sie sagen, dass es trotz des aktuellen Rückganges in Österreich wieder Gletscher geben kann und wird: Wann und wie – und wieso ist das dennoch kein Erklärmodell, das Klimawandelleugnern und ihrem Satz „es ist eben ein natürliches Wechselspiel“ recht gibt?
Gletscher sind in den letzten 1,5 Millionen Jahren immer wieder gekommen und gegangen, aus natürlichen Ursachen. Wir stehen gerade an der Kante, durch den Ausstoß der Treibhausgase aus diesem Bereich auszubrechen. Begrenzen wir den Ausstoß der Treibhausgase so, dass die Erwärmung unter 1,5 oder zwei Grad im globalen Mittel bleibt, so ist eine leichte Abkühlung in Modellen zu sehen, die die Gletscher wieder entstehen lassen könnte.
Es ist unbestritten, dass die derzeitige Erwärmung auf die Treibhausgasemissionen zurückzuführen ist, natürlich würde es schon kühler werden Richtung nächste Eiszeit. Ich würde den Klimawandelleugnern sogar recht geben: Ja, es war schon einmal so, wie es werden könnte – sogar zehn Grad wärmer als heute. Ich möchte aber darauf aufmerksam machen, dass wir in unserem Lebens- und Wirtschaftssystem schon sehr große Unterschiede zu den Dinosauriern aufweisen und daher mit Anpassungsschwierigkeiten zu rechnen ist, bis sich die Evolution des Homo Sapiens an den Tyrannosaurus Rex angepasst hat: Ins Auto passt man dann halt nicht mehr, und das Haus wird von Riesenfarn überwuchert … Also ist es wichtig, die Geschichten zu Ende zu denken. Nach Möglichkeit zu einem guten Ende: Sauriertemperaturen halte ich deswegen für eine schlechte Option, weil die darauf angepassten Organismen zum Großteil ausgestorben sind.
Sauriertemperaturen halte ich für eine schlechte Option: Sie sind ausgestorben.
Andrea Fischer
Österreichische Glaziologin und Wissenschaftlerin des Jahres 2023Aber ist Gletscherskifahren, ist Wintertourismus, tatsächlich so „böse“, wie es in der Kommunikation und in Kommentaren immer wieder dargestellt wird? Wo ist da das wahre Problem – und lässt es sich lösen?
Die Geschichte der Kritik an Aufstiegshilfen und die Kritik am Tourismus insgesamt begleiten beide seit ihrer Entstehung, wobei die Färbung wechselt. Aber die Rollen sind klar verteilt: Die Kritiker:innen sind die Guten und wollen das Gute bewahren, die Nutzer:innen und Betreiber:innen dagegen gefährden das Gemeinwohl.
Zur Frühzeit des Wintertourismus wurde ja eher christlich-moralischer Verfall befürchtet. Etwa durch aufgekrempelte Ärmel bei Männern, oder Hosen bei Frauen, allgemeine Liederlichkeit und den Verderb der Jugend sowie die Nicht-Einhaltung kirchlicher Feiertage. Das hat übrigens – der Sage nach – auch schon zu Vergletscherungen, Lawinen und anderen Naturkatastrophen geführt. Heute dagegen wird die Moralkeule gerne ausgepackt, wenn es um die Nutzung von Naturraum geht, aber auch um einen vermeintlichen Überkonsum Einzelner auf Kosten des Gemeinwohls anzuprangern.
Gleichzeitig wird die Infrastruktur Teil des täglichen Lebens: „Ich bin heute am Gletscher“ hat sich für bestimmte Skigebiete als Ortsangabe eingebürgert – aber Namen des Gletschers kennen die meisten Skifahrer gar nicht. In diesen gut abgesteckten Claims kann man gut Emotionen wecken und mit dem Finger auf „den Feind“ zeigen, das sind also gute Instrumente für Populismus.
Aber welche Rolle, welche Position nimmt die Wissenschaft hier ein?
Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Vielfalt aufzuzeigen: Es gibt nichts, was nur gut oder nur schlecht ist, man muss Vor- und Nachteile immer offen aufzeigen und bewerten. Aussagen, die die Welt rein in Schwarz und Weiss darstellen, sollte man von vornherein sehr kritisch überprüfen. In der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts liest sich schwarz-weiß viel lustiger, weil wir durch den Abstand Klarheit haben. Als Kindern unserer Zeit fällt es uns heute aber viel schwerer, uns von den Fallstricken und Dogmen zeitgeistiger Denkmuster zu lösen: Vielleicht wird man Autoakkus in 100 Jahren ebenso schräg finden, wie wir die radioaktiven Uhren der ersten Hälfte des Jahrhunderts.
Aber wie bringt man das über die Rampe? Wie geht die Wissenschafterin mit Klimawandel-Skeptiker:innen oder -Leugner:innen, aber auch -Fatalist:innen („eh schon wurscht…“) um?
Die Kollegen aus der Psychologie und Philosophie können hier sehr schöne Grundmuster aufzeigen, die wir ja aus anderen Epochen und Krisen kennen. All das sind zutiefst menschliche Bewältigungsstrategien krisenhafter Ereignisse oder Ängste. Naturwissenschaftler können dennoch Auswege bieten, wenn sie nämlich gute Lösungen verständlich darstellen.
Verzicht braucht man doch nicht zu fordern – das kann man einfach machen!
Andrea Fischer
Österreichische Glaziologin und Wissenschaftlerin des Jahres 2023Sehen Sie ihre Rolle, aber auch die der Wissenschaft generell, als die der reinen neutralen Beobachterin, Analytikerin und Dokumentatorin – oder doch auch als Mahnerin und Ratgeberin?
Ich denke gute Wissenschaft muss Geschichten erzählen, die man verstehen kann. Diese Geschichten müssen auf Fakten beruhen – und auch darstellen, was man eben nicht weiß. Werten und entscheiden müssen aber die Zuhörer:innen. Auch bei alten Geschichten ist es ja immer den Zuhörern überlassen, zu entscheiden, ob der Wolf böse ist. Dafür ist es gut, auch nachzufragen: „Warum macht er das?“ Oder „Wieso bauen die Schweinchen drei Häuser?“ Die Meinung muss sich im Zuhörer bilden, damit seine Lebensrealität mit abgebildet ist. Ein Multimilliardär wird anders bewerten als eine Alleinerzieherin, und das ist auch in Ordnung und wichtig.
Wie frustrierend ist es, zu sehen, wie ungebremst – oder zumindest zu langsam abbremsend – die Politik auf Klimawarnungen reagiert?
Ist Mutter schuld, wenn ich mir die Finger erfriere, weil ich keine Handschuhe angezogen habe? Ich finde es verwunderlich, dass wir so gebannt auf die Politik starren – die Lösungen müssen von den Menschen kommen!
Vertragen/Brauchen alpine und Gletscherregionen Solar/Windkraftwerke?
Die Umwelt wird sich signifikant und drastisch ändern, wenn wir den Klimawandel nicht einbremsen. Wir wissen, dass die Gewinnung erneuerbarer Energien extrem wichtig bei der Transformation zu einer CO2-neutralen Gesellschaft ist. Wir wissen, dass die Gletscher in wenigen Jahren Geschichte sind. Ist es also besser, noch 10 Jahre ohne erneuerbare Energien im Gebirge zu haben – und dann die Sintflut, also zerstörte Ökosysteme?
Natürlich ist das ein möglicher Entscheidungspfad – aber er scheint mir nicht nachhaltig, insbesondere unseren Nachkommen gegenüber sinngemäß zu sagen: „Ich wollte Energie konsumieren, fand Windräder aber hässlich, also habe ich mir gedacht: Wenn Du erwachsen bist, ist es ohnehin schon so warm, dass du woanders hinziehen musst. Also ist es auch schon egal, ob man dann in den Alpen noch leben kann.“
Man kann da natürlich auch andere Argumentationslinien formulieren. Wichtig aber wäre, das Ding von allen Seiten zu betrachten: Was konkret ist negativ an Windrädern oder Solarkraftwerken? Was ist positiv? Und dann streichen wir alle Argumente mit ‚die sollen lieber stattdessen…‘ und ersetzen sie durch ‚ich mache…‘.
Ist es also zu einfach Verzichtsmaßnahmen („Nicht mehr Skifahren.“ „Keine Fernreisen.“) oder obrigkeitsstaatliche Regulierungen zu fordern?
Verzicht braucht man doch nicht zu fordern – das kann man einfach machen! Ach so: Es sollen ja die Anderen verzichten!
Anders gefragt: Was kann/soll jede:r Einzelne selbst tun? Sind das nicht zu kleine Mosaiksteine in einem riesigen, globalen Puzzle?
Das möchte ich umkehren: Was kann man als Einzelne:r eigentlich nicht tun? Können wir nicht alles, was wir von Politikern verlangen, auch einfach selbst umsetzen?
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