G. war begeistert. Sie habe etwas gefunden. Jetzt, wo es – endlich – auch in der Stadt Sommer werde, sei sie schon dreimal da gewesen. Immer sei es traumhaft gewesen. Sandstrand gäbe es. Schatten. Tiefe Wannen. Seichte Uferbereiche. Große Steine, auf denen man sich sonnen und räkeln könne. Aber auch versteckte, kleine Buchten, in denen man von keiner Menschenseele gesehen werde.
Nicht nur, weil kaum jemand vorbei käme. Dort, sagte G. mit geheimnisvoller Miene, sei „wo der Wildbach rauscht – aber doch in Wien.“ Dann sah sie mich mit erwartungsvoller Neugierde an: Ich würde, sagte sie, im Leben nie erraten, wo sie dieses Paradies gefunden habe.
Ich ließ ihr die Freude. Obwohl ich wußte, von welchem Ort sie sprach. Ich bin dort, selten aber doch, seit Jahren immer wieder. Aber: Warum sollte ich G. die Freude verderben? Darum bat ich sie, uns doch mal mit zu nehmen. Und tat überrascht, als wir mit den Rädern dann letzte Woche am rechten Donauufer flussabwärts fuhren: Von der Tangentenbrücke an der Pagode und am Windrad vorbei zum Kraftwerk Freudenau. Hinüber auf die Insel, weiter flussabwärts – und dort, wo der asphaltierte Weg nach links über eine Holzbrücke schwenkt auf schmalen, unscheinbaren Pfaden ins Unterholz – dem Rauschen nach.
Das kommt von einem Bach. Der fließt hier wild und urtümlich. Mit Kurven und Windungen. Steinen und (kleinen) Stromschnellen. Quirlig und sprudelnd. An manchen Stellen fast reißend. Bis er ein paar hundert Meter unterhalb der Staumauer breiter und ruhiger wird – und in die Donau mündet.
Wenn man weiß, dass es diesen Fluss gibt, findet man hier perfekte Stellen für den Sommer am Wasser. Allerdings nur, wenn man weiß, dass und wo es ihn gibt. Denn der Wildbach auf der Donauinsel hat keinen Namen. Wonach sollte man also suchen?
Doch das ist nicht die seine einzige Besonderheit: Die Donauinsel ist ein künstlich errichtetes Bauwerk. Errichtet Anfang der 70er-Jahre als Hochwasserschutz. Wie und warum kam hat da jemand am – das Kraftwerk kam ja erst später – abgelegenen Ende einen Wildbach gebaut? Wozu? Außerdem: Wenn rechts der Insel die Donau und links von ihr die „Neue Donau“, also das Entlastungserinne, sind – wo entspringt dann der Fluss?
Und weiter: Die Donau ist oberhalb des Kraftwerkes Freudenau ein de facto stehendes Gewässer. Wasser soll nur durch das Laufkraftwerk und die Schiffsschleuse flussabwärts fließen. Wieso darf dann ein ganzer Fluss das Kraftwerk „umfahren“? Und zu guter Letzt: Wenn das hier die einzige „Umfahrung“ ist – müsste sich das Wasser da nicht mit dramatischer Kraft längst eine mächtige Schneise durch die Insel gefressen haben?
Das Rätsel ist einfach gelöst: Zufluss und Durchfluss des Wildbaches werden weit oberhalb der Staumauer vom Menschen geregelt. Quasi per Wasserhahn. Der namenlose Wildbach ist kein Werk der Natur sondern von Menschenhand. Die Schlingen, Kurven, Buchten und Wellen wurden am Planungstisch skizziert und von Baggern und Schubraupen in die Wirklichkeit übersetzt. Dann übernahm die Natur: Pflanzen kamen. Details im Uferbereich, kleine, magische Plätze gestalteten sich über die Jahre de facto von selbst.
Nur erklärt das das „Warum“ noch nicht. Die Antwort ist im Grunde logisch. Zumindest sobald man sie einmal bekommen hat: Der Bach ist eine Treppe. Für Fische. „Fischtreppe“ lautet der Terminus. Gängig sind auch die Vokabel „Fischwanderhilfe“, „Fischweg“ oder „Fischleiter“. Oder, weniger bildhaft, „Organismenaufstieg“.
Eine Fischtreppe ist, was ihr Name sagt. Eine Treppe. Ohne solche „Umgehungsstraßen“ wären Flusskraftwerke das Ende der Wanderung von Fischen und anderen Wasserlebewesen, in deren Lebenszyklus das Hinauf- und Hinwandern von Flussläufen eine zentrale Rolle spielt. Auch wenn immer wieder zahllose Fische mit Schiffen und durch Schleusen flussab oder -auf migrieren: Schleusen zu benutzen ist im genetischen Code von Wassertieren nicht abgespeichert.
Fischtreppen aber „versteht“ der Fisch. Kleine Schwellen oder Stufen im Wasser überwinden können die meisten Arten auch – weil ihre natürlichen Habitate oft so gestaltet sind. Und ob die Treppe nun vom Menschen oder der Natur kommt, ob da einfach ein paar spezifisch geformte Betonbecken nebeneinander gestapelt sind oder es ein aufwändig gestalteter „Flusslauf“ ist, ist dem Fisch relativ egal: Steht „wandern“ in seinem genetischen Programm, muss er es tun. Nur so überlebt die Art.
Die Fischtreppe auf der Donauinsel ist deshalb mehr als ein Geheimtipp. Sie ist der Beweis, dass es möglich ist, moderne Energiegewinnung in Einklang – oder zumindest nicht in Widerspruch – mit den Lebensumfeldern anderer Spezies als der menschlichen zu bringen: Seit es die Treppen auch anderswo immer häufiger gibt, werden bei „Fischzählungen“ wieder Fischarten erfasst, die schon als ausgestorben galten – weil sie anderswo am Wandern gehindert wurden.
Als wir, G., ein paar Freunde und ich, letzte Woche im Mündungsbereich des künstlichen Wildbaches abhingen, erzählte ich G. diese Geschichte. Sie strahlte. Nicht nur wegen der Fische: Dass ich ihr das Label „Entdeckerin“ nicht abgeschossen habe, rechnet sie mir hoch an. Und das ist auch etwas wert.
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