Sprache schafft Bilder im Kopf. Und die definieren dann Werte und Ansichten: Gerade im Verkehr, sagt Ines Ingerle, die Kommunikationsexpertin und Sprecherin der Wiener Radlobby, wird durch Formulierungen der motorisierte Verkehr oft als unantastbar dargestellt – und alles andere hat sich unterzuordnen.  

Ines Ingerle, Sprecherin der Wiener Radlobby. Foto: Andrei Cazacu

Eine Person in Jacke und mit Mountainbike steht auf einer Holzbrücke, umgeben von Bäumen. Diese friedliche Szene lädt zum Nachdenken darüber ein, wie Initiativen wie „Wie Sprache den Wiener Radverkehr verändern kann“ die Fahrradkultur fördern und die städtische Verkehrslandschaft verändern können.

Ines, du bist Sprecherin der Radlobby, Autorin beim „Drahtesel“, schreibst dort über das Rad und Verkehrspolitik im Alltag – und bist auch Kommunikationstrainerin. Du setzt dich also intensiv mit Sprache auseinander – auch im Verkehr. Darüber hast du gerade im „Drahtesel“ eine Coverstory geschrieben. Was hat Sprache mit Radfahren und Verkehr zu tun?

Sprache hat einen wesentlichen Einfluss darauf, wie wir Geschehenes in unseren Köpfen verarbeiten. Auch, wo wir Schuld automatisch verorten. Deswegen ist es relevant wie wir zum Beispiel über Unfälle – allein das Wort ist schon problematisch – sprechen und schreiben. Weil dadurch Realität kreiert wird.

Was ist am Wort „Unfall“ problematisch?

Ein Unfall ist etwas, was nicht vermieden werden hätte können. „Ein Unfall passiert.“ Das suggeriert, dass man nichts anders hätte machen können – und das ist so gut wie immer einfach falsch. Bei den meisten Verkehrsunfällen hätte sehr wohl etwas anders gemacht werden können. Und meist kommt dann dazu, dass eine sicherere Infrastruktur den Unfall überhaupt verhindert, hätte: Eine Infrastruktur, die nicht fehleranfällig ist, heißt, dass der Fehler nicht passieren wird.

Wenn Menschen versagen, etwa wenn ein Autolenker einen radfahrenden Menschen übersieht, dann sollte die Infrastruktur so sein, dass das nichts ausmacht. Dass es dadurch eben zu keinem Unfall kommt. Etwa beim „Dooring“: Der Klassiker. Da heißt es dann „Radfahrer kracht in Autotür“. Aber was ist tatsächlich passiert? Eine autofahrende Person hat die Tür geöffnet, ohne zu schauen, ob von hinten ein Mensch auf dem Fahrrad kommt – hat also einen schweren Fehler gemacht. Aber die Infrastruktur ist oft so angelegt, dass dieser Fehler böse enden muss: Da kann sich sehr leicht jemand verletzen – oder sogar getötet werden.

Nur: Was ändert Sprache daran?

Sie ändert etwas, weil Sprache Bewusstsein lenkt. Darauf, wo die Verantwortung liegt. Wenn ich sage „da war kein geschützter Radstreifen, der Radfahrer musste knapp am parkenden Auto vorbeifahren und ein Mensch im Auto hat beim unachtsamen Öffnen der Tür einen Menschen am Rad verletzt, entsteht ein ganz anderes Bild. Wir haben dann eine andere Vorstellung, wo die Verantwortung zu verorten ist, als wenn da steht: „Radfahrer kracht in Autotür“ – da findet schon verbal die Täter-Opfer-Umkehr statt: Hat der Radfahrer nix besseres zu tun, als in eine Autotür zu krachen? Kann der nicht aufpassen? Und: Warum fährt der überhaupt Rad? Das ist die typische Verkehrs- und Unfallberichterstattung. Das ist „Victim Blaming“:

Wer mit dem Fahrrad unterwegs ist, ist quasi selber schuld, wenn was passiert.

Also ein Medienproblem?

Nicht nur. Das sieht man auch in Kommentaren und Debattenbeiträgen: Da hält sich nach wie vor der Irrglaube, dass eine Straße zuerst einmal für Autos da ist.

Wir haben uns so daran gewöhnt, dass wenn wir „Straße“ sagen, eigentlich nur der motorisierte Verkehr gedacht wird. Und sind daher verwundert, was da plötzlich ein Radfahrer verloren hat: Das da ist doch die Straße! Wenn wir die Sprache anpassen, bekommen wir eine andere Art von Bewusstsein.

Hast du dieses Thema, dieses Bewusstsein, erfunden?

Natürlich nicht. Es ist erwiesen, dass wir nicht rein rational denken. Unsere Gehirne funktionieren nicht rational. Wir können im Unterbewusstsein ein „Nicht“ nicht wahrnehmen. Das heißt, wenn ich sage „mir ist nicht schlecht“ bleibt hängen „mir ist schlecht“. Und wenn ich sage „Radfahren ist nicht gefährlich“ bleibt zum Wort „Rad“ nur „gefährlich“ hängen.

Da gibt es viele Beispiele: Wenn ich eine Straße für den Radverkehr öffne, wird trotzdem von „Straßensperre“ gesprochen – weil die Straße jetzt ja für den motorisierten Verkehr gesperrt ist. Nur: Sie ist ja nicht gesperrt – sie ist offen für Rad- und Fußverkehr. Sie ist offen zum Verweilen. Sie ist offen für Kinder, weil sie jetzt sicherer ist. Sie ist offen für mehr Ruhe, bessere Luft und so weiter. Es geht also darum wie ich etwas „frame“. In welchen Rahmen wir Situationen setzen, bestimmt, wie wir sie wahrnehmen.

In unseren Medien fällt dieses Framing fast immer zugunsten des motorisierten Verkehrs aus. Da spiegelt sich der Geist einer Stadt oder eines Landes wider.

In Amsterdam und generell in den Niederlanden schaut es anders aus: Dort ist das Fahrrad ein vollwertiges Verkehrsmittel. Es ist großteils priorisiert – dort findet man solche Formulierungen wie „Radfahrer kracht in LKW“ oder „Kind springt in Windschutzscheibe“ selten – weil das Bewusstsein anders ist: Wo Radfahren als gutes und vollwertiges Verkehrsmittel angesehen wird, denkt in solchen Fällen niemand „Radfahrer sind ja selbst schuld, sie stellen eine Gefahr für sich und den motorisierten Verkehr dar“. Das kommt bei uns ja oft: „Radfahrer gehören nicht auf die Straße, weil sie den motorisierten Verkehr gefährden.“

Das kommt immer noch?

Ich höre es immer wieder – und es schafft Realitäten im Kopf: Ich höre dann als nächstes „Du kannst doch deinen Alltag nicht mit dem Fahrrad bestreiten als erwachsener Mensch. Das geht doch nicht. Wie soll ich denn meine Kinder in die Schule bringen ohne Auto? Wie soll ich meinen Einkauf transportieren ohne Auto?“ Das sitzt tief in den Köpfen – auch, weil Sprache dieses eine Bild von Verkehr zeichnet.

Was sagst du darauf?

Ich sage: „Mit dem Lastenrad. Wo ist das Problem? Ich bekomme fast alles in meine Packtaschen.“ Was ich meine: Für mich ist vollkommen normal, was für andere Menschen vollkommen undenkbar ist. Aber wenn man so groß geworden ist, dass der motorisierte Verkehr nicht in Frage gestellt wird, denkt man auch keine Alternativen – und natürlich ist man dann der Meinung, dass das nur so weitergehen kann: Da wird Wegrationalisieren von Parkplätzen natürlich zur Schreckensvision.

Parkplatz – auch ein feines Wort, oder?

Ja. In Wirklichkeit ist es ein Stehplatz – die meisten Parkplätze für Autos sind Plätze wo Autos herumstehen, die kaum benutzt werden. Da könnte man schon umdenken. Fragen, ob dort, wo Blechschüsseln rumstehen nicht auch etwas anderes stehen könnte. Bäume etwa. Oder Parkbänke – für Menschen.

Also etwas, das Flächen nicht nur schöner macht, sondern auch entsiegelt – und so Hitzeinseln in der Stadt reduziert.

All das höre ich schon seit gefühlt 200.000 Jahren von Radlobby und Co. Aber bisher hat das wenig in veröffentlichen Wahrnehmung geändert. Spürst du jetzt, wo alle von Verkehrs- und Energiewende reden, einen Umschwung?

Ich glaube, die Gesellschaft wird reifer. Aber ich glaube, dass die Politik noch immer nicht weit genug ist. In der Pandemie haben viele Menschen entdeckt, dass Rad ein gesundes, gutes, sicheres und schnelles Verkehrsmittel ist.

13 Prozent mehr Menschen fahren jetzt Fahrrad als 2019, zu Beginn der Pandemie.

Die Regierung möchte den Radverkehrsanteil verdoppeln, schafft aber nicht den nötigen Platz dafür: Wenn immer mehr Menschen Radfahren, ist das ein wichtiger Schritt Richtung Klimaschutz, aber dann muss ich auch die Budgetmittel dafür freimachen – und Infrastruktur schaffen, die das überhaupt ermöglicht: Wir haben jetzt schon viel zu wenig Platz – es passiert zu wenig.

Es heißt immer „Super, dann fahren mehr Menschen Rad.“ Aber: Sie schaffen einfach nicht den Platz dafür – in Wien überlegen sie schon wieder, ob man nicht doch auf Kosten der sicheren Infrastruktur Auto-Stellplatz schaffen kann. Etwa indem man als „proteced bikelanes“ errichtete Radinfrastruktur wieder zurückbaut und schützende Trennelemente wegnimmt – um Platz für Stellplätze zu schaffen. Das ist die falsche Richtung.

Was wäre die richtige Richtung?

Das Ziel ist, nicht Autofahren wieder attraktiver zu machen, sondern Öffi- und Rad zu priorisieren. Dafür zu sorgen, dass sie gut und sinnvoll kombiniert werden können. Etwa dass Fahrräder in den Öffis leicht und kostengünstig mitgenommen werden können. Die Kernaussage, das Bild – auch sprachlich – muss sein, die Leute aus dem Auto zu bekommen.

Natürlich gibt es Menschen, die wirklich aufs Auto angewiesen sind. Es geht auch nicht darum, das Auto abzuschaffen. Aber man kann viele Autofahrten reduzieren – und viele Wege, die immer noch mit dem Auto zurückgelegt werden, leicht mit einem Fahrrad, etwa einem Lastenrad machen. Man kann viele Autos, die in Wien auf sogenannten „Parkplätzen“ stehen, reduzieren – etwa durch Carsharing: da geht es um ein Umdenken. Um eine neues Framing. Dieses Umdenken muss dann aber kommuniziert werden – und da sind wir wieder bei dem, was und wie gesprochen und geschrieben wird.

Kommt der Handwerker dann mit dem E-Lastenrad? Und wer älter ist, fährt E-Bike? Löst das wirklich alle Verkehrsprobleme? Mittlerweile ist ja fast jedes zweite verkaufte Rad eines „mit E“.

E-Rad-Mobilität ist toll, aber nicht die Lösung aller Verkehrsprobleme. Weil: Solange es die Infrastruktur nicht gibt, bringen uns mehr E-Bikes nicht viel. Dann haben wir noch mehr Radfahrende, die insgesamt noch weniger Platz haben.

Die Politik muss endlich Budgetmittel frei machen: 30 Euro pro Person und Jahr würden es möglich machen, brauchbare Infrastruktur zu schaffen. Das ist ein Wert, der anderswo absolut realistisch ist.

Wo liegt Wien da derzeit?

Bei etwa einem Zehntel davon. Also: E-Mobilität ist an sich großartig. Um bei deinem Beispiel zu bleiben: Ein 75-jähriger Mensch sagt „Ich habe die Kraft nicht mehr um auf ein Fahrrad ohne Motor zu steigen, also kaufe ich mir ein E-Bike, weil ich mich traue damit zu fahren“. Großartig! Nur: Das wird er oder sie nur sagen, wenn die Infrastruktur passt. Und Radfahren daher als „sicher“ wahrgenommen und kommuniziert wird.

Es geht immer auch um das Narrativ: Veränderung beginnt mit dem Bewusstsein dafür, dass etwas anders sein sollte. Aber auch möglich ist: Wenn ich anders drüber rede, anders darüber schreibe, Dinge anders „frame“, werden die Leute auch anders darüber denken – erst dann kann sich die Realität nachhaltig verändern.