08. Februar 2022: Vor zwei Jahren hätte ich den Verhaltensbiologen, Kurt Kotrschal, vermutlich in ein Wiener Kaffeehaus zum Gespräch geladen, um mich mit ihm über das Verhalten der Spezies Homo Sapiens in Beziehung zu Natur und Tier, zur Gesellschaft und zu sich selbst zu unterhalten – doch die Corona-Krise hat auch bei uns offensichtlich den digitalen Wandel nochmals beschleunigt, weshalb wir uns via Zoom virtuell, statt in alter Manier, getroffen haben.
Ist der Mensch Natur oder entfremdet er sich als Teil der Natur?
Unser heutiges Leben birgt zum Teil die Gefahr der Entfremdung in sich. Es ist ja immer so, dass Technologien entwickelt werden, bevor man sich darüber Gedanken macht, was das gesellschaftlich bedeuten könnte. Dies war bereits bei der altsteinzeitlichen Speerschleuder so. Das hat dazu geführt, dass im Zusammenhang mit der beginnenden Kooperation mit Hunden und Wölfen Mammuts gejagt werden konnten. Dies begann sehr schlagartig vor 35.000 Jahren und dabei haben sich die Leute bestimmt nicht überlegt, was wird uns das für eine gesellschaftliche Entwicklung bringen.
Extremer ist dies heute natürlich mit der digitalen Revolution – d.h. die Hard- und Software Anbieter von Apple bis Google stellen eine Technologie bereit, die von uns bereitwilligst genützt wird. Dies hat nicht nur negative Seiten, trifft aber unfassbar genau den Nerv der menschlichen Natur.
Dabei haben die Firmen, die dies entwickelt haben, natürlich nach kaufmännischen Gesichtspunkten gehandelt. Und haben sich sicher nicht gefragt, wie wird das die Gesellschaft verändern. Das machen wir erst jetzt, sehr langsam hinterher. Das ist das gängige Muster. – D.h. wenn es so etwas wie eine Naturentfremdung gibt – und das scheint es schon zu geben -, dann ist es sozusagen eine Folge dieser Entwicklung.
Inwiefern spielt das Stadtleben bzw. Landleben diesbezüglich eine Rolle?
Die Entfremdung ist auch eine Folge davon, dass schon seit längerer Zeit mehr als 50% der Menschen in Städten leben. Stadtleben ist jetzt nichts Schlechtes, aber es beschleunigt unser Leben, es bewirkt eine gewisse Naturferne, was andererseits wieder alte Sehnsüchte steigert.
Wir haben weltweit die Erscheinung, dass die Beziehung zu Tier und Natur immer anthropozentrischer, immer menschenbezogener werden. Wir schützen auch nur die netten Tiere. Wir schützen den Pandabären, aber nicht den grauslichen, japanischen Riesenmolch. – Wer will schon den Schleimpatzen? – Der darf ruhig aussterben. Das ist ein typischer Teil der menschlichen Irrationalität. Man soll jetzt auch nicht mit diesen kultur- pessimistischen-Befürchtungen übertreiben. Schließlich gehört es zur menschlichen Natur, dass wir eine gewisse Beziehung zu Tier und Natur brauchen. Das merkt man insbesondere bei Kindern, die, wenn sie z.B. mit einem Hund aufwachsen, wesentliche Entwicklungsvorteile haben. Grundlegend lassen sich Menschen von der Natur nicht entfremden, weil wir dafür nicht gebaut sind.
Was sich schon feststellen lässt, ist, dass ein naturfernes Aufwachsen die Resilienz der Erwachsenen gegenüber mentalen Herausforderungen verringert. Kinder, die in der Stadt – also naturfern – aufwachsen, haben eine wesentlich gesteigerte Wahrscheinlichkeit im Erwachsenenalter an psychische Probleme zu bekommen. Das geht von Süchten bis zu Psychosen. Das ist kein Zufall, denn es ist sozusagen eine Entwicklungserfordernis für uns Menschen, dass man einen gewissen Kontakt mit Tier und Natur pflegt. Insofern hat diese typische städtische Naturentfremdung negative Auswirkungen. Darauf können wir aber auch reagieren, indem wir unsere Städte daran anpassen. Ich sage immer schon: „Eine Stadt mit der man mit Hund gut leben kann, ist auch eine kindergerechte Stadt und ist auch eine menschengerechte Stadt.“
Werden wir dem Titel „Homo sapiens“ gerecht?
Als Biologe bin ich natürlich mit der vergleichenden Methode sozialisiert, dann muss man schon genauer hinsehen, was uns Menschen als biologische Art auszeichnet. – Und da kommt man auf nicht wahnsinnig viel. Unsere Art zu denken ist ganz ähnlich wie z.B. das Denken der Hunde. Allerdings, was unser Alleinstellungsmerkmal ist, ist unser riesiges Hirn. es ist nicht nur sehr groß, sondern auch von der Leistungsfähigkeit entsprechend „getuned“. Für unser Hochleistungs-Gehirn braucht es eine sehr günstige ökologische und soziale Umgebung, damit es gut funktionieren kann. Wenn wir dies nicht haben, haben wir ein Problem. Unser großes Gehirn ist sehr störungsanfällig geworden. Prinzipiell haben wir als wahrscheinlich einzige Tierart auf der Welt die Fähigkeit bzw. die Pflicht zu reflektieren und daraus unsere Schlüsse zu ziehen – d.h. wir sind auch für Alles verantwortlich. D.h. nicht, dass jeder einzelne Mensch auf der Welt reflektiert. D.h. nicht, dass jeder Mensch seine kognitiven Fähigkeiten auch wirklich in vollem Ausmaß nützt. D.h. dass nicht jeder Mensch ständig von Logik und Denken beherrscht ist. Jeder Mensch macht jeden Tag unvernünftige Dinge. – Warum? Weil wir von unseren Anlagen her sehr grundlegend irrational sind. Der Begriff „Homo sapiens“ ist schon ok. – Das Potential ist gegeben, ob wir dies als Individuum oder Menschheit auch nutzen, ist die Frage.
Was bedarf es für einen ganzheitlich betrachtet „gelungenen“ Homo sapiens?
Eine gute Integration der Instinkte, des Bauchgefühls und des Denkens ist die Definition eines Menschen, der in seiner Mitte ruht. Und der gute Entscheidungen trifft. Wir sollten uns zu einem gewissen Grad darüber bewusst werden, was uns antreibt und dazu dient auch eine gewisse Einsicht in die menschliche Natur. Dann können wir sozusagen unser Stirnhirn befähigen, das Kommando zu übernehmen. D.h. wir haben alle Grundemotionen, die wir übrigens auch mit den Hunden & Giraffen teilen. Es gibt Leute, die lassen sich emotional durchs Leben treiben und andere haben es gelernt mit ihnen umzugehen. Das ist ein diffiziler Lernprozess, der bereits in frühester Entwicklung beginnt. Dies ist nicht nur eine Frage der Anlagen, sondern v.a. eine Folge der Qualität der sozialen Betreuung in den ersten Lebensjahren, wie sehr man die eigenen Impulse zu kontrollieren lernt oder eben nicht.
Wir sollten schauen, dass man möglichst eine Balance entwickelt zwischen den alten, evolutionär grundgelegten Verhaltensantrieben und dem Verstand. Dazu braucht es natürlich ein gutes Aufwachsen, eine gute Schulbildung, etc.
Seit es Leben gibt, gibt es auch Tod – warum hat der Mensch im Anbetracht dessen immer noch Angst davor?
Die einzig gewisse Sache ist der Tod. Jeder von uns wird sterben. Wie lange dies noch gilt, wissen wir nicht. Auch wenn einige Labore mit Hochdruck an der Unsterblichkeit arbeiten. Nicht alle haben Angst vorm Sterben – manche wollen sterben. Und da gibt es Sprüche von Konrad Lorenz: „Alt sein ist schrecklich, aber das ist die einzige Methode, um lang zu leben.“ Oder „Tod sein tut nicht weh, aber Sterben ist blöd.“ Wissen werden wir es erst, wenn wir selber sterben. Es gibt Menschen mit einer Gewissheit, mit einer gewissen Ruhe oder sogar Todessehnsucht. Und es gibt Menschen, die hadern bis zum Schluss mit der Obszönität des Todes. Ob wir uns fürchten oder gefasst sind, macht letztlich keinen Unterschied, sterben tun wir alle.
Woran liegt es, dass die Sehnsucht nach Unsterblichkeit – siehe Silicon Valley – so groß geworden ist? Am Wohlstand und einer gewissen Langeweile unserer Gesellschaft? Einer Angst vor dem Kontrollverlust?
Wir haben vom Baum der Erkenntnis genascht, deswegen hat uns der liebe Gott aus dem Paradies geschmissen. Das Naschen vom Baum der Unsterblichkeit ist ein uraltes Thema, das tritt schon in den alten Stadtkulturen auf. Und dieses „Naschen vom Baum der Unsterblichkeit“ war uns bis dato nicht vergönnt, weil wir uns damit gemäß der klassischen Denke mit Gott gleichsetzen.
Die meisten von uns leben gerne, manche Leute entwickeln im Laufe ihres Altwerdens eine gewisse Müdigkeit, so unter dem Motto das haben wir alles erlebt, was haben wir alles gesehen, das reicht mir, das ist alles schon langweilig.
Bei meinen Kollegen beobachte ich, dass viele immer kompetenter werden auf ihren Gebieten, nicht auf allen, in manchen wird man auch blöder. Dieses immense Wissen, diese immense Lebenserfahrung können wir eigentlich nur bedingt an andere weitergeben. Wir können ein Buch schreiben, die Frage ist nur, ob dies jemand liest. Und wir können die jungen Leute beraten. Wenn man am Höhepunkt der Lebenserfahrung und der Weisheit ist, und nicht das Pech hat in eine Demenz zu schlittern, was auch passieren kann, dann stirbt man. Und das ist eine unglaubliche Vernichtung von Ressourcen. Der Wunsch der Unsterblichkeit kann aus der Überzeugung der eigenen Bedeutung entspringen. Ich kenn ein paar Leute, die glauben, sie sind die wichtigsten und gescheitesten Leute auf der Welt oder es kann auch einer Lebenssehnsucht entspringen, einer Angst davor, was später passiert. Die meisten Naturwissenschaftler, wie ich, denken, dass es mit dem Tod vorbei ist. Aber wissen werden wir es erst, wenn es dann so weit ist. Also gibt es eine riesige Ungewissheit im Zusammenhang mit dem Tod und das macht natürlich Angst.
Ist die Überbevölkerung wahrlich das Problem oder ist es vielmehr das Verhalten der Menschheit selbst, das „Wie“ wir leben?
Das Problem ist eher der Ressourcenverbrauch des wohlhabenden Teils der Menschheit. Man könnte natürlich argumentieren, dass ein armer Afrikaner oder ein noch ärmerer Inder ein Hundertstel unseres ökologischen Fußabdrucks produziert, aber die Frage ist erstens: Wollen wir das? Und wollen wir es dem armen Afrikaner und Inder auf ewige Zeit zumuten, dass es so bleibt? Also wenn man von einem vernünftigen, gleichmäßigen Wohlstand auf der Welt ausgeht, dann sind wir bereits zu viele. Also müssen wir Wege finden, um wirklich nachhaltig zu werden, um nicht mehr Ressourcen zu verbrauchen als die Biosphäre nachschaffen kann, brauchen wir Lebens-Stil-Änderungen. Das wissen wir alle – nur tun wir es nicht.
Erst vor kurzer Zeit gab es wieder eine Meldung, dass sich der Ressourcen-Verbrauch seit den 70er Jahren auf der Welt vervierfacht hat, was v.a. auf die Industrialisierung Chinas zurückzuführen ist.
Worin könnte u.a. die Lösung liegen?
Was man gemerkt hat ist, wenn man auf Bildung der Frauen setzt, dann sinken die Geburtenraten. Wenn man auf Urbanisierung setzt, sinken die Geburtenraten. D.h. Es gibt Entwicklungen, die suggerieren, dass es so nicht ewig weitergehen wird. Das Problem ist nur, es gibt nur mehr einen kleinen Rest von nicht bewirtschafteten Ökosystemen und Naturräumen – von denen wir allerdings abhängen. D.h. die letzte, weltweite Berechnung von Experten ist, dass wir zwischen 30% und 50 % der Wälder im Süden wieder aufforsten müssen, um erstens den Biodiversitäts- Verlust in Grenzen zu halten und zweitens, um das CO2 Problem in den Griff zu bekommen. Wenn man nur auf Naturschutz setzt und nicht auf „Renaturierungsprozesse“, werden wir es nicht schaffen.
Man muss etwas tun, sonst ist es wirklich vorbei. Vorbei im Sinne von: Das Leben auf der Erde ist für viele Menschen heute schon sehr beschwerlich. Aufgrund von Armut, aufgrund von Klimaveränderungen, die einem die Lebensgrundlage rauben. Und das wird zunehmen, auf uns wächst der Migrations-Druck, Konflikte werden zunehmen – d.h. das „Schrecklich-Interessante“ an unserer Zeit ist, dass die Krisen in einem Maß auf uns einstürzen und immer kurzfrequenter auftreten, dass wir überhaupt nicht mehr mitbekommen, was um uns überhaupt vorgeht. Also jetzt sich noch hinzustellen und zu meinen, wir können dies alles lösen, ist schon ein sehr uninformierter Optimismus. D.h. wir müssen an den größten Schrauben drehen und an den kleinen Schrauben, man muss an allen Schrauben genau genommen drehen, weil man im Grunde dafür sorgen muss, dass die Menschen nicht in Angstzustände kippen. Es gibt sehr negative Erwartungen auf der einen Seite, auf der anderen Seite sind wir nicht ganz chancenlos.
Wie sehen Sie im Anbetracht der bevorstehenden Herausforderungen bzw. Krisen in die Zukunft?
Was mich etwa im Zusammenhang mit den bevorstehenden genetischen Optimierungsmöglichkeiten beunruhigt, ist, dass man vermutlich die falschen Perfektionierungen anstrebt. Man will verständlicherweise die Krankheiten loswerden, man will perfekte Körper und perfektes Denken haben, aber kein Mensch spricht von der Perfektionierung des Verhaltens in Richtung Allgemeinwohl. Wir sollten aber den Fokus auf das Allgemeinwohl richten. Dies ist keine sentimentale Herangehensweise, sondern eine Frage des Überlebens. Wir werden es entweder gemeinsam schaffen oder gar nicht. Diese ständige Geschichte, sich von anderen abzugrenzen und sich die „eigenen Kastanien aus dem Feuer“ zu holen und es ist völlig wurscht, was die andere machen. Wir sehen ständig, dass die Probleme der Menschen genau daraus kommen. Wir brauchen innerhalb unserer Gesellschaft und auch zwischen den Gesellschaften wesentlich mehr Augenmerk auf das Ganze. Auf das Allgemeinwohl, auf eine intakte Biosphäre.
Wenn ich mir heute einen SUV kaufe, dann ist das u.a. ein Statement dafür: „Es ist eh wurscht.“ Ich verbrauche soviel ich kann und lass es mir jetzt noch gutgehen. Hinter mir die Sintflut. Das wäre so ein Beispiel. – Nichts gegen SUVs, aber ein bissl denken darf man auch dabei.
Univ. Prof. Kurt Kortschal ist Biologe, Verhaltensforscher, Professor an der Universität Wien und Autor. Neben seinen regelmäßigen Publizierungen für die Tageszeitung Die Presse, sind Bücher wie „Hund & Mensch: Das Geheimnis unserer Seelenverwandtschaft“, „Der Wolf und wir: Wie aus ihm unser erstes Haustier wurde und warum uns seine Rückkehr nicht bedroht“ Teil seines wissenschaftlichen Schaffens.
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