Jürgen Herler, schafft dort neue Gärten, wo keine sind: In der Stadt. Nach 15 Jahren in der Meeresforschung erkannte er, dass unser größtes Problem die industrielle Lebensmittelproduktion ist. Um die Menschen zu dem Thema hinzuführen und in der urbanen Selbstversorgung zu unterstützen gründete er HerBios – ein Unternehmen, das Lösungen für Vertikalbeete anbietet.
Was beschäftigt Sie gerade? Wie sieht gerade Ihr Corona-Alltag aus?
Ich habe mehr Arbeit als sonst, da ich Online-Händler bin und auch teilweise die Produktion selber mache. Es kommen gerade viele Anfragen herein. Die Leute nutzen offenbar die Zeit, um sich Gedanken über ihre Lebensmittelbeschaffung und Balkon- bzw. Terrassengestaltung zu machen.
Warum Vertikalbeete?
Mein Zugang dahinter ist, dass wir zu unserer Basis als biologische Wesen zurückkehren müssen. Es ist ein fast philosophischer Zugang. Wir müssen allumfassende Erfahrungen machen, um mit uns selber und der Natur in Kontakt zu kommen, ein Garten hilft dabei. So wirken wir der Entfremdung entgegen. Durch einen Garten erfahren wir Freude, aber auch den Umgang mit Misslingen. Das muss man selbst erleben, lernen damit umzugehen und das auch aushalten. Gärten sind ein erster „stepping stone“ zur Renaturierung der Menschen und mit den Vertikalbeeten können wir Natur auch dorthin bringen, wo es keine mehr gibt. In die begrenzten freien Flächen im urbanen Umfeld.
Woher kommt Ihre Leidenschaft für Biologie?
Ich habe schon mit 6 Jahren beschlossen Biologe zu werden. Das Initialerlebnis war ein junger Grünfink in einem blühenden Apfelbaum. Ich habe mich gefragt: Was ist das und was tut der dort? Und so habe ich mir selber Fragen gestellt über das Leben und mir Bücher besorgt. Meine Eltern hatten nicht sehr viel Zeit und ich bin ländlich aufgewachsen. Das bedeutete, dass wir Kinder uns den ganzen Tag lang unbeaufsichtigt im Garten und Wald aufhalten konnten, bis zur Dunkelheit. Das ist heutzutage fast undenkbar. Mit 10 Jahren einfach alleine in der Natur sein. Ich hatte diesen engen Kontakt zur Natur, fühlte mich aufgehoben, war einfach ein integraler Bestandteil davon. Das ist bis heute so geblieben.
Sie haben letztes Jahr ein Buch heraus gebracht mit dem Titel „Hände in die Erde“ – was ist die Kernbotschaft?
Wenn wir uns mit biologischen Prozessen auseinandersetzen, lernen wir uns als biologisches Wesen besser zu verstehen. Ein essbarer Garten ist der logische Zugang dazu. Wir müssen für ein ökologisches Leben bei unseren Grundbedürfnissen ansetzen: Wohnen, Essen, Bekleidung. Die eigene Lebensmittelproduktion ist vielen aus ihrer Kindheit vertraut. Viele hatten Großeltern mit einem Gemüsegarten am Land. Das geht den Leuten in der Stadt ab. Doch wir erinnern uns daran und viele besinnen sich wieder darauf. Bei den Kindern ist der Zugang oft am Einfachsten. Ich habe auch Projekte in Schulen und dort auch Kinder, die sich zuerst nicht schmutzig machen wollen. Viele sind dann aber nach wenigen Minuten begeistert dabei, kippen richtig rein und wollen sogar in der Pause weitermachen.
Ich möchte biologische Oberflächen für Menschen in Städten schaffen, an denen etwas passiert. Wo Platz für Zufälle und Beobachtung ist, so können wir auch Unvorhergesehenes, das wirklich natürliche, zulassen und auch überrascht werden. In einem naturnahen Garten passieren ganz viele ungeplante Dinge.
Landwirtschaft in der Stadt ist gerade ein „hippes Thema“ – wer sind Ihre Kunden?
Es ist mir in all den Jahren nicht gelungen eine genaue Zielgruppe zu definieren. Vielleicht könnte man sagen, dass es 80 % Frauen sind und vom Alter 35+, aber ein Garten begeistert eigentlich jeden. Oft ist mein Lieblingsthema „Wintergemüse“ der Einstieg, denn es ist möglich das ganze Jahr hindurch frischen Salat aus dem eigenen Garten zu beziehen.
Sind Vertikalbeete als Begrünungsmaßnahme einsetzbar?
Ich begrüne keine Häuser, ich baue Gärten für Menschen. Mir geht es um die Bewohner. Ich möchte eine ideale Situation speziell für sie schaffen. Ich gestalte das mit den Leuten zusammen, damit sie das bekommen, was sie sich wünschen.
Begrünungsmaßnahmen passieren oft von der anderen Seite, da geht es um die Gebäude. Bei einer Eigentümergemeinschaft müssen alle zustimmen, oft gibt es aber Bedenken wegen Ungeziefer und andere Einwände von naturentfremdeten Menschen. Und zu diesen Begrünungen fehlt oft die Beziehung.
Bei uns geht es aber auch immer mehr Richtung Gesamtlösung, also z.B. ein kompletter Terrassenverbau oder ein Pergola-System mit Vertikalbeeten. Manchmal ist es eine komplette Wand für einen Balkon oder die Verkleidung einer Mauer. Sehr nachgefragt sind auch Trennwände im Außenbereich, um sichtgeschützte Bereiche zu schaffen. Unsere Entwicklung geht also in Richtung Bauteil-Funktionen.
Mit welchen Pflanzen arbeiten Sie?
Zuerst muss man wissen, dass es ungefähr 350.000 Pflanzenarten auf der Welt gibt, von denen ungefähr 50.000 essbar sind. Davon werden ca. 7.000 kultiviert, aber es sind nur ca. 30 Arten, die 90% unserer Ernährung ausmachen.
Die meisten Menschen essen vor allem Lebensmittel, die für den Handel entwickelt wurden. Sorten, die Transport und Lagerung nicht aushalten, wird man im Handel nicht finden. Und es werden auch nur die Pflanzenteile verkauft, die haltbar sind. Man findet z.B. kaum Karotten mit Karottengrün dran, das würde gleich verwelken. Aber auch das ist essbar. Genau so wie Kohlrabiblätter.
Deshalb ist unser Konzept, dass man vor allem Gemüse anbauen soll, die es NICHT im Handel gibt! Es macht also Sinn Karotten anzubauen, wenn man auch das Grüne davon essen möchte. Kopfsalate, wenn man die mag, sollte man besser im Handel kaufen und stattdessen Pflücksalate anbauen. Meine zahlreichen Wintersalate, die ich im Oktober gesetzt habe, haben wir den ganzen Winter durchgehend geerntet. Da gibt es eine ungeheure Geschmacksvielfalt. Von dem Salat, der wesentlich mehr Nährstoffe enthält wie der gekaufte, wird man auch besser satt! Das ist ein Indikator für ein wertvolles Nahrungsmittel. So kann man auch seinen Rohkost-Anteil in der Ernährung erhöhen.
Auch für Kinder ist das großartig, wenn sie die Beete entlang gehen und von ihren selbst angebauten Pflanzen essen können. Der Anbau von Kräutern macht natürlich auch Sinn. Kräuter im Handel sind meistens getrocknet oder in Plastik verpackt, das muss nicht sein. Ich arbeite seit einigen Jahren mit dem Biohof Mogg zusammen, der über 300 Sorten anbietet. Da ist jedes Jahr neues dabei und ich probiere ständig aus.
Sie sind Wissenschaftler – erforschen Sie die Vertikalbeete?
Das mache ich viel zu wenig! Einige Versuche mache ich allerdings immer wieder. Ich erstelle z.B. parallele Systeme mit unterschiedlichen Bio-Erdmischungen, dann beobachte ich die Pflanzen und ziehe Rückschlüsse daraus, die wieder in die Entwicklung fließen. Als Ein-Personen-Unternehmen habe ich zu wenig Zeit mehr Forschung zu machen, dabei würde ich das gerne machen, denn ich entwickle sehr gerne. Inzwischen habe ich Partner und arbeite auch mit meinem Bruder zusammen, der Architekt ist. Ich hoffe daher wieder mehr Zeit in Forschung stecken zu können. Mein Ziel ist immer ein ökologischer Garten – ich mache z.B. keine Indoor-Gärten mit künstlichem Licht, das macht in meinen Augen wenig Sinn. Die Menschen sollen mehr Zeit draußen verbringen.
Welche neuen Entwicklungen gibt es?
Wir gehen mehr in Richtung Bauteilentwicklung, arbeiten an der Schnittstelle zur Architektur. Wie kann man Gebäude schaffen, die essbar sind, sodass die Begrünung wirklich ein Teil der Fassade ist? Dazu müssen die Gärten auch begehbar sein, also geht es um die Balkone und Terrassen und geht über eine reine Fassadenbegrünung hinaus.
Wir denken immer in größeren Zusammenhängen. Vertikalgärten sollen möglichst viele Funktionen erfüllen. Für einen funktionierenden Garten sind neben der Ausrichtung zur Sonne auch gute Erde und eine ausreichende Wasserversorgung wesentlich. Deshalb wollen wir auch Regenwasser und Biotope inkludieren. Wenn wir es also schaffen, dass schon im Neubau das Regenwasser richtig mitgedacht wird, das wir für die Bewässerung brauchen, wäre das natürlich perfekt und ein großer Schritt in Richtung echter urbaner Landwirtschaft gemacht.
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