Jeden Tag. Bei jedem Wetter. Gefühlt seit immer: Dass der alte Mann aus China jetzt wieder vor dem Theseustempel übt, zeigt mir, dass noch nicht alles verloren ist.
Herr Lee war Ende April dann wieder da. Und auch wenn das aus einer globalen Sicht auf die Welt und das, was die Corona-Epidemie mit unserem Alltag anstellte, vollkommen egal ist, war das für mich doch wichtig. Weil Herr Lee eine „Leuchtturmfunktion“ hat. Nur wusste ich das nicht. Nicht, bis ich ihn Ende April plötzlich wieder sah – und mich freute. Richtig freute.
Herr Lee ist Chinese. Deswegen sagen alle, die mit oder über ihn reden, „Mr Lee“ – auch wenn das absolut unlogisch ist: Soweit ich weiß, spricht Herr Lee weder deutsch noch englisch so gut, dass es einen Unterschied machen würde, ob man ihn mit „Mr“ oder „Herr“ anspricht. Egal – darum geht es nicht.
Worum es geht ist, dass Herr Lee ein Symbol ist. Ein Symbol für Kontinuität und Verlässlichkeit. Dafür, dass das Leben die seltsamsten Volten schlagen mag – es aber doch Fixpunkte gibt. Orte und Momente, die gefühlt unverrückbar und „ewig“ sind. Sicherheit geben. Ruhende Pole in stürmischer … blablabla. Trotzdem: Sowas braucht man.
Herr Lee ist so ein Pol. Obwohl er nicht ruht: Herr Lee bewegt sich. Macht Tai Chi. Jeden Tag. Gefühlt seit immer. Und – belegt – bei jedem Wetter: Egal ob es sonnig ist, hagelt oder schneit, ob eisige Winde pfeifen oder die Stadt schon in der Früh ein Backofen ist: Herr Lee ist da. Steht frühmorgens auf dem Platz vor dem Theseustempel im Volksgarten – und macht Tai Chi. Für sich – und für den Rest der Welt. Oder zumindest für und mit allen, die da sind.
Das sind gar nicht so wenige: Bei gutem Wetter sind da manchmal 20, 30 Leute. Bunt gemischt. Aus allen Altersgruppen und Schichten. Einmal sah ich sogar Heinz Fischer, damals Bundespräsident und wohl gerade am Weg ins Büro, mitmachen. Wie jeder und jede andere auch. Wäre da nicht sein Personenschützer gestanden, wäre mir gar nicht aufgefallen, dass da der Bundespräsident den Bewegungen des alten Mannes in der ersten Reihe zu folgen versuchte.
Ich selbst habe noch nie mitgemacht. Aber ich sehe Herrn Lee und seine Schüler und Schülerinnen regelmäßig: Der Volksgarten liegt auf meiner Morgenlauf-Hauptroute. Und auch wenn es mir bisher nicht bewusst war, hat es einen Grund, dass ich immer auch beim Tempel vorbeirenne: Zu sehen, dass Herr Lee da ist, ist Sicherheit. Beständigkeit. Beruhigt. Erdet. Zeigt, dass es Dinge gibt, auf die man sich verlassen kann: Solange der alte Mann aus China vor dem Fake-Tempel im Park seine langsamen, schönen, runden Bewegungen macht, ist die Welt nicht ganz aus dem Lot.
Natürlich ist das übertrieben. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass ich mich, als zu Beginn der Corona-Sperren die Bundesgärten – also auch der Volksgarten – plötzlich zu waren und ich am versperrten Tor vorbeilief, zuerst fragte, was Herr Lee jetzt wohl mache und erst dann fluchte. Die Sperre war ärgerlich. Eine sinnlose Schikane – aber wo war Herr Lee?
In den ersten Tagen nach der Park-Wiederöffnung lief ich anderswo. Aber soweit ich weiß, war da auch kein Tai Chi: Auch wenn die Morgenübungen keine offizielle oder gar kommerzielle Veranstaltung sind und die Leute auch früher immer weit auseinander gestanden hatten, kannte jeder die Geschichten von grotesken Anzeigen und horrenden Strafen für angebliche Delikte, die keiner juristischen Prüfung der Welt stand halten. Im Augenblick waren sie aber eben doch lästig.
In der vorletzten Aprilwoche, als der Lockdown gelockert wurde, war Herr Lee dann wieder da. Die Abstände zwischen den Übenden waren größer. Viele trugen Masken. Aber da der Park kein Sportplatz, Herr Lee kein Sportverein oder Trainer und Tai Chi weder eine Veranstaltung noch ein Wettkampf ist, hatte niemand etwas einzuwenden. Zwei Polizisten gingen vorbei und nickten freundlich (vermutlich lächelten sie hinter ihren Masken), als ein paar der Übenden ihnen zuwinkten.
Ich lief nur vorbei. Und begriff endlich:
Solange Herr Lee in der Früh beim Theseustempel Tai Chi unterrichtet, ist die Welt in Ordnung. Oder zumindest nicht ganz verloren.
Und auch wenn ich mir das nur einrede: Es ist wichtig – weil es mich glücklich macht.
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