03. Februar 2022: Zunehmend trifft man auf der Weltklimakonferenz (COP) Atomkraftlobbyisten an, die sich mitunter ganz ähnlich zu geben versuchen, wie es die Umwelt- und Klimaschutzbewegungen rund um den Globus tun: jung, unverfänglich und frei von Hemdsärmeln. Man versucht dabei ganz aktiv sich in eine Reihe mit Klima- und Umweltaktivisten zu stellen, und bedient sich mitunter des gleichen Auftretens.

Glasgower Gespräche
Auch zeichnete sich bei der Weltklimakonferenz in Glasgow bereits ab, dass eine Gruppe EU-Mitgliedsstaaten Ambitionen hat, Atomkraft in der EU-Taxonomie als “nachhaltig” zu klassifizieren. Forciert wurde dieses Vorgehen von Frankreich, es fand aber auch Unterstützung in Polen und Tschechien. Sowohl in Polen als auch in Tschechien sollen neue Atomkraftwerke entstehen. Was vor wenigen Monaten aber nur Schemen am europapolitischen Horizont waren, das ist jetzt ja bekanntlich politische Realität.

In Polen wären dies die ersten Atomkraftwerke, im Land stehen derzeit noch keine AKWs, ein ehemaliges Bauvorhaben brach man nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl ab – der Widerstand in der Gesellschaft war zu groß. Doch nun sind viele Jahre ins Land gezogen, die Meinungen haben sich geändert. Und so soll nun 2026 (!) an der Ostseeküste (die aus Sicht des staatlichen Energieversorgers wunderbare Möglichkeiten zur Kühlung der Kraftwerke bietet) der Bau von 6 Atomkraftwerken beginnen. Frühestens 2033 soll dann das erste Kraftwerk an das Stromnetz angeschlossen werden. Danach soll alle paar Jahr ein neuer Block fertiggestellt werden, so dass dann 2043 alle 6 Kraftwerke in Betrieb sind.
In Tschechien hingegen baut man keine “zusätzlichen” Atomkraftwerke, sondern möchte im Kraftwerk Dukovany, das noch nach sowjetischer Bauart errichtet wurde und deswegen unter anderem nicht ein Containment um den Kernreaktor besitzt (das etwa auch in Tschernobyl nicht vorhanden war), die alten Kraftwerksblöcke durch neue, moderne Anlagen ersetzen. So plant man den Bau zwei neuer Kraftwerksblöcke.

Triebkräfte

Auf dem europäischen Kontinent gibt es zwei große Befürworter der Atomkraft als „Übergangstechnologie“, das sind Großbritannien und Frankreich.

Dabei haben beide Staaten ein großes, sich überschneidendes Interesse am Ausbau und dem Weiterbetrieb ihres Atomenergiesektors, denn beide Staaten sind im Besitz von Atomwaffen.
Man verfolgt hier also nicht notwendigerweise nur einen zivilen Ansatz, sondern denkt gerade auch an die militärischen Verwendungszwecke. Das ist, wenn man einen Blick zurückwirft, eine Entwicklung, die Hand in Hand ging. Staaten, die an der Atomkraft forschten, forschten erst an ihr, um die Atombombe zu entwickeln, dann um wahlweise einen Vorsprung vor dem Ostblock oder den Westmächten zu haben, dann um in einer Welt aufzusteigen, die nach der Maßgabe des Besitzens oder eben nicht Besitzens von Atomwaffen zwischen entwickelten und weniger entwickelten Staaten zu differenzieren wusste.

Aber zurück zur zivilen Nutzung: Großbritannien war gemeinsam mit den USA und Russland Vorreiter beim Bau von Kernkraftwerken und so ging in Großbritannien bereits 1956 das erste Atomkraftwerk ans Netz. Seither hat man 45 dieser Kraftwerke erbaut und 34 davon auch wieder abgeschaltet – entweder, weil sie am Ende ihrer Laufzeit angelangt waren, oder aufgrund von Störfällen.

Dann eben teurer
Der weitgehende Rückbau der bestehen Anlagen ist zwar geplant, aber gleichzeitig baut man auch weiter, etwa am Standort Hinkley Point. Dabei war der Weg bis zum Bau, der gerade stattfindet und jedenfalls planmäßig 2026 beendet werden soll, kein günstiger. So musste die britische Regierung dem Kraftwerksbetreiber zuvor erst eine Einspeisevergütung von 11 Cent pro Kilowatt plus Inflationsausgleich für eine Dauer von 35 Jahren zusichern. Zum Vergleich: die Einspeisevergütung für Photovoltaik rangieren zwischen 4 und 6 Cent.

Dabei ist das “Geschäft” mit dem Atomstrom schon heute eines, das nur deswegen nach marktwirtschaftlichen Faktoren konkurrenzfähig zu sein scheint, weil es über weite Strecken auf ein zumindest annähernd konkurrenzfähiges Preisniveau heruntersubventioniert wird.

Bezahlt werden müssen diese Kosten freilich trotzdem, man sieht sie nur eben nicht, aus den Augen, aus dem Sinn eben. Dabei scheint dieses Verhalten eines zu sein, das sich im gesamten Umgang mit der Atomkraft niederschlägt. Endlager für den Atommüll fehlen, man produziert ihn weiter, heute zumindest gesammelt. Davor verklappte man ihn am Grund der Weltmeere, mit der Folge, dass die Radioaktivität in unserer Nahrungskette langfristig anstieg. Oder diskutierte darüber, den Atommüll unter dem Eis der Antarktis einzuschmelzen.

Neben dem großen Bauvorhaben in Hinkleypoint vernimmt man aus Whitehall das Begehren Klein-AKWs zu bauen. Für diese sog. SRMs (small modular reactor) gibt es derzeit aber noch kein kauffertiges Konzept, gearbeitet wird in diesem Bereich aber viel, etwa auch in China, den USA und Kanada. Eine Lösung für die Klimakrise können diese Atomkraftwerke allerdings ebenso wie ihre großen Geschwister nicht darstellen, alleine schon deswegen (sollten sie alle anderen Bedenken, die gegenüber dem Einsatz von Atomkraft bestehen aus dem Weg räumen können), weil ihr kommerzieller Einsatz noch Jahrzehnte weit entfernt ist.

Auch in Frankreich sieht die finanzielle Lage der Atomenergie nicht anders aus. Der französische Staatskonzern und weltweit größte Atomstromproduzent EDF ist hoch verschuldet. Der Konzern hat 42 Milliarden Euro Schulden, zuzüglich Zinsen, zugleich hat er ein hohes Kreditausfallrisiko, sein Rating liegt gegenwärtig laut der Ratingagentur Fitch bei BBB+. Dabei lasten diese Schulden so sehr auf dem Konzern, dass der französische Staat den Strompreis deckeln muss.

Politische Maßgaben
Zur Eindämmung des Klimawandels müssen die weltweiten Treibhausgasemissionen reduziert werden. Daran führt kein Weg vorbei. Wie wir ihn beschreiten, welche Technologien wir dabei nutzen, das liegt bei uns.
Führende Figuren der internationalen Politik wie Al Gore, Clinton, Blair, die heute durchaus zu den lautesten Stimmen im Antreten gegen die Klimakrise zählen, haben während ihren Amtszeiten keine Maßnahmen in diesem Bereich ergriffen, schlicht weil es sich aus der politischen Realität heraus verbot. Diese politische Realität ist ein Kind der noch vorherrschenden Maximen des Multilateralismus, die es gerade zu gebieten, ja zur notwendigen Bedingung macht, jedes Problem, dass es zu lösen gilt nur unter dem Prisma des nationalstaatlichen Interesses zu betrachten.

Hier ankert, jedenfalls denke ich das, auch einer der Anker für die Atomkraft, denn genauso wie der Multilateralismus, zumindest in den Reihen der “senior policymaker”, sieht die Atomkraft, respektive wie erwähnt den Bau von Atomwaffen, als Fortschritt der Nation. So sehr das in Nordamerika und Westeuropa der Fall ist, umso mehr ist das der Fall in den “Entwicklungsländern”. Gerade hier sieht man den Bau von Atomkraftwerken als Fortschritt, als Errungenschaft und Aufschluss zu den “entwickelten” Ländern. Ein solches Vorgehen ist bei der Wählerschaft populär und bietet auf die Spanne einer oder einiger weniger Wahlperioden politisches Kapital, das man gerne mitnimmt, frei nach dem Motto: “tue ich es nicht, so tut es ein anderer”. Es geht mehr um die Bilder, als die Inhalte und am allermeisten um das Bild des Fortschritts. Gerade in Frankreich ist die Atomindustrie ein großer Arbeitgeber, so stehen jeden Tag 200.000 Menschen auf, um einer Tätigkeit in der Atomindustrie nachzugehen.

Zurück zur Taxonomie!
Es handelt sich bei der eingangs erwähnten EU-Taxonomie viel mehr um einen politischen Bewertungsakt, der letztlich dazu dient, Gebiete festzulegen, in denen “grüne” Investments möglich sind. Das es dabei aber um das Label, nicht aber den Inhalt geht, dafür legen gerade das gegenwärtig stattfindende Hin-und-Her um Gas- und Atomkraft Rechnung ab. Man mag hier freilich einwenden, dass Gaskraftwerke ein zu ertragendes Übel innerhalb des Prozesses der Energiewende darstellen, das mag sein, was aber sicher nicht zutrifft ist, dass es sich dabei um eine den erneuerbaren Energien gleichwertige oder gleichzusetzende Energiequelle handelt.

Ein solches, in Brüssel ausgestelltes Nachhaltigkeitsattest hätte praktisch zur Folge, dass Investitionen in notwendige Projekte im Segment der erneuerbaren Energien stattdessen in den Ausbau nicht-zukunftsfähiger Energieträger fließen würden. Der Ausbau und der Übergang hin zu den erneuerbaren Energien würde verlangsamt werden, die Gelder, die es bräuchte, würden etwa im Beton neuer Meiler versinken und in deren Infrastruktur auf Jahrzehnte verbleiben – Jahrzehnte, die uns nicht mehr bleiben.

Wir sitzen alle in einem Boot – auch was den Klimaschutz betrifft.

Ein mit Containern beladenes Frachtschiff fährt unter klarem Himmel über den Ozean und genießt den Genuss einer reibungslosen Seereise.

Schiffe und Kabinen
Die mehr als 7,9 Milliarden Menschen, die heute auf der Erde leben, leben nicht mehr wie über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte hinweg in hunderten separaten “Booten”, heute leben sie in 193 Kabinen an Bord eines Schiffes. Aber dieses Boot, das hat 193 Kapitäne und ebenso viele Besatzungen. Jeder für sich, das funktioniert nicht mehr, das kann nicht funktionieren in einer Zeit, in der die Natur der Krisen eine transnationale ist.

Dabei ist das Risikopotential der Atomkraft gerade eines, das sich nicht auf Grenzen bezieht, das nicht an ihnen halt macht, sondern über sie hinweg zieht. Wenn aber das Risikopotential dieser Technologie ein solches ist, dann kann die politische Antwort, oder jedenfalls die politische Beantwortung der Frage um die Nutzung einer solchen Technologie zumindest der gleichen Natur entspringen.

Neben der entgrenzten Gefahren, die die Nutzung der Atomkraft eröffnet, kennt sie auch keine zeitliche Grenze(n), jedenfalls am relativen Maßstab des menschlichen Lebens oder der menschlichen Zivilisation bemessen. Welcher andere Maßstab aber würde sich hier anbieten? Mir fiele keiner ein.

Umweltschutz- und Klimaschutz sind kein Selbstzweck für sich und fanden jedenfalls in der (politischen) Realität nie ihren Platz aufgrund hoher Ideale oder dem Schutze irgendwelcher Güter zur Liebe, sondern entspringt gerade der Notwendigkeit für das menschliche Leben.

Mehr zum Thema Atomkraft im Podcast mit Leo Zirwes: